Robert Seethaler, geboren 1966 in Wien, nennt seinen Roman "Das Feld", er hätte ihn aber auch "Der Friedhof" nennen können. Im Roman geht es tatsächlich um einen Friedhof, und zwar den von Paulstadt. Da sitzt einer beim "Feld" und hört die Stimmen der toten Paulstädter. Nun reden sie und erzählen ihre Geschichten - im Nachhinein. In jedem Kapitel hält einer Rückschau auf sein Leben oder Sequenzen seines Lebens. So sind die Kapitel überschrieben mit den Namen der Toten.
Die einzelnen Kapitel lesen sich wie Kurzgeschichten. Ich war schon ziemlich fortgeschritten mit dem Lesen, als ich bemerkte: Ich hätte mit jedem beliebigen Kapitel dieses Buches beginnen können! Ich hätte von hinten nach vorn, von der Mitte nach hinten und vorn oder kreuz und quer lesen können. Denn Zusammenhänge zwischen den ehemaligen Bürgern von Paulstadt erschließen sich erst nach und nach.
So habe ich dann angefangen, mir zu den Toten Notizen im Buch zu machen. So steht z. B. bei "Lennie Martin": Mann von Louise, Spieler, spielsüchtig, Gärtner mit Regnier bei der Stadt, liebt Louise. Bei "Louise Trattner": Enkelin von Stephanie Stanek, Frau von Lennie, prostituiert sich, Mann spielt, liebt, aber verlässt ihn. Ich habe zurückgeblättert, wenn ich im Laufe des Buches über den einen im Kapitel eines anderen etwas erfahren habe, der wiederum sein Kapitel schon am Anfang des Buches hatte und habe dort noch etwas dazu geschrieben, so dass schließlich Paulstadt ein immer runderes Bild ergab - mit den Geschichten jedes Einzelnen.
Manches wird erst schlüssig, wenn man den betroffenen Toten selbst "reden" liest, was zuvor durch Äußerungen eines anderen über eben diesen ganz anders dargestellt war. Mir wurde klar - keiner kennt den anderen wirklich, keiner kann wirklich die Wahrheit über den anderen sagen, selbst wenn sie jahrelang miteinander gelebt haben. Keiner kann wirklich in den anderen hineinschauen - jeder bleibt am Ende für sich mit seiner wirklich wahren Geschichte und selbst dann bleibt sie Ansichtssache, bleibt Perspektive. So, wie der Journalist Hannes Dixon in seinem Kapitel feststellt: Manches wird übertrieben. Vieles falsch dargestellt. Eigentlich alles. Die Wahrheit ist biegsam wie ein heißes Eisen. Die Wirklichkeit ist Ansichtssache. (S. 196)
Auch der Bürgermeister von Paulstadt muss feststellen: "... Wahrheit ist nicht mehr als eine Sehnsucht." (S. 99). Und wie allein jeder ist mit seiner Wahrheit, merkt er, als er den bewegendsten Moment seines Lebens preisgibt: "Nicht meine Ernennung zum Bürgermeister, … Nicht einmal die Geburt meines ersten Kindes, … Nein, es war der Moment, als wir uns auf der Parzelle sieben, Reihe vier und fünf zusammengefunden hatten, um drei unserer Mitbürger zu ihrer letzten Reise zu verabschieden... In diesem Moment schlugen unsere Herzen zusammen, als wären wir ein einziger Organismus. Für diesen einen, todtraurigen Moment waren wir das, was man eine Gemeinschaft nennt." (S. 102)
Die einzelnen Lebensgeschichten werden zusammengehalten von der so poetischen, aber einfachen Sprache Seethalers, die mich seltsam melancholisch hinterlässt, selbst bei den glücklichen Liebesgeschichten wird mein Herz wehmütig. Vielleicht, weil es die Toten sind, die sie erzählen und die sie so nie ihren Liebsten erzählt haben. Da sind in der Sprache auch Spuren von Else Lasker-Schüler, wenn da geschrieben steht: "Vom Himmel schneit es kalte Sterne." oder: "Ich halte Winterschlaf in deiner Achselhöhle." (S. 208) Mein Lieblingskapitel aber ist das von Susan Tessler. Diese Geschichte ist einfach SCHÖN.
Macht euch die Arbeit, euch durch die Zusammenhänge Paulstadt's zu lesen. Absolut lohnenswert!
Deshalb wieder mal fünf von fünf Miezen:
Robert Seethaler, Das Feld, Hanser Berlin in der Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München, 1. Auflage 2018, 239 Seiten, ISBN 978-3-446-26038-2
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