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Christoph Hein "Verwirrnis"


Romanempfehlung in der MainPost vom 17.09.2018
Romanempfehlung in der MainPost vom 17.09.2018

"Verwirrnis" ist das aktuelle Buch des Schriftstellers Christoph Hein, geb. 1944, der seit den 1980er Jahren regelmäßig in sehr engen Jahresabständen mit verschiedensten Literaturpreisen bedacht wurde. Christoph Hein war mir namentlich schon ein Begriff - noch dazu als ehemaliger DDR-Schriftsteller - ich hatte mir aber seine Bücher - warum auch immer - als eher sperrige Literatur vorgestellt. So viel zum Thema sperrig: Ich habe das Buch in zwei Tagen gelesen!

 

Christoph Hein's Roman wurde in der MainPost vom 17.09.2018 von der Karlstadter Bibliothekarin Sina Köhlnhofer in der Reihe "Das liest Karlstadt" empfohlen. Die Geschichte befasst sich mit dem Thema Homosexualität, und diese vor dem historischen Hintergrund Nachkriegsdeutschland, geteiltes Deutschland bis hin in die Wiedervereinigungs- und Wendezeit. Zum Inhalt siehe auch die Kurzbeschreibung von Frau Köhlnhofer, die ich hier nebenstehend zitieren möchte - vielen Dank!

 

Homosexualität wurde in der DDR schon seit Ende der 1950er Jahre nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Der westliche Teil Deutschlands brauchte für die Abschaffung dieses Gesetzes noch einmal zehn Jahre länger. Nichtsdestotrotz unterschieden sich die Lebenswelten in Ost und West des geteilten Deutschlands nicht wesentlich. Hier wie dort waren Homosexuelle - Schwule wie Lesben - gesellschaftlich nicht anerkannt, kaum ein homosexuelles Paar lebte offiziell zusammen oder outete sich... Ich kann mich noch gut an den Kinostart des DDR-Filmes "Coming out" erinnern, den ich in Dresden zur Wendezeit sah, und dass dieser allgemein noch für großes Aufsehen und Verwirrung sorgte.

 

"Verwirrnis" nun zeigt, wie einer (und zwar Friedeward Ringeling) an diesem gesellschaftlichen Wertesystem kaputt gehen kann, das wider seiner Natur ist, zumal wenn dieser Widerspruch noch in Kombination gerät mit einem familiären Umfeld, das keinerlei Verständnis entwickelt und mit keinerlei Liebe hinterlegt ist und schlussendlich diese Umstände noch mit persönlichen Voraussetzungen und Eigenschaften kollidieren.

 

1. Friedeward bleibt - im Gegensatz zu seinem sich doch autonomer entwickelnden Freund Wolfgang - stecken und kleben in den Werten und Normen seiner (ost- und DDR-)deutschen Gesellschaft...
"Er musste schweigen, musste verschweigen, was keiner wissen durfte. Es wäre ihm unerträglich, vor seine Studenten zu treten und zu wissen, dass sie über ihn im Bilde waren..." (S. 219)
2. … und ebenso in der religiös und erzkatholisch geprägten Wertewelt, die ihm sein schon längst verstorbener Vater mit dem Siebenstriemer (eine Art Peitsche) eingebläut hat:
"Dein Vater war ein sehr strenger Mann, streng gegenüber allen anderen, vor allem aber gegen sich selbst [Mutter zu Friedeward] … Ich wäre gern ein Spötter geworden, stattdessen wurde ich ein wissenschaftlicher Oberassistent, der an seiner Habilitationsschrift sitzt, und in der wird es nicht spöttisch zugehen, sondern streng wissenschaftlich. Sehr, sehr streng, so wie ihr es mir beigebracht habt. [Friedeward zur Mutter] S. 247/248
Einer, der noch als Siebzehnjähriger (!) von seinem Vater blutig gestriegelt wurde und der dennoch als Erwachsener zu dessen Tode eilt und täglich am Sterbebett Händchen hält - wie makaber und wie kontrolliert!, aus einem Pflichtbewusstsein heraus oder um nur des Bildes nach außen willen?
3. Und dazu noch einer, der eingeengt ist von seiner eigenen Korrektheit - in Kleidung und Benehmen, von seinem "antiquierten Gebaren" und der beim "Aufgeben gewisser Verhaltensregeln .. einen Kulturverfall" fürchtet (S. 7/8). Und so ist es nicht verwunderlich, dass Friedeward sich verabschiedet mit wie aus der Zeit gefallenen Worten "Des allen müd bin ich gegangen..." (S. 299)
In "Verwirrnis" arbeitet Christoph Hein sehr ausgeprägt und mit sehr aussagekräftigen Dialogen. Innere Monologe findet man kaum und so erschließt sich das Fatale an Ringeling's Kampf und Zerrissenheit für mich erst zum Ende des Buches und fast, ja fast war ich tatsächlich von seinem Suizid überrascht.
Erst auf Seite 261 (von 303), zur Grenzschließung im August 1961, entfährt Friedeward ein "Ade, Wölfchen, … leb wohl. Nun ist es ein Abschied für immer. Er atmete tief durch und musste die Tasse abstellen. Tränen traten ihm in die Augen". Das ist aber auch schon das Höchste der Gefühle, worüber der Leser erfährt, dass und wie Friedeward leidet. 
Auch, weil ich mit den Sinnen des 21. Jahrhunderts lese, wo man sich sogar das dritte Geschlecht in den Ausweis eintragen kann - war ich zunächst überrascht vom Ende des Buches, auch weil ich von einem so gebildeten Mann wie Friedeward Ringeling ein gewisses "über den Dingen stehen und die Probleme lösen" erwartet hätte, er aber ein historisch Gefangener bleibt, immer noch, auch in den beginnenden 1990ern bleibt er geprägt von den Umständen mehr als von seinen Möglichkeiten.
Wenn sich alle Christoph-Hein-Bücher so lesen lassen, wird es in naher Zukunft noch mehr Rezensionen über diese geben... Von meinem Vorurteil Sperrigkeit keine Spur mehr - ich bin gespannt.

 

Christoph Hein "Verwirrnis", Suhrkamp Verlag Berlin, 1. Auflage 2018, ISBN 978-3-518-42822-1, 303 Seiten


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