Longlist/Shortlist
Der Name Angelika Klüssendorf ist mir das erste Mal im Sommer 2018 über die Longlist, der Nominierungsliste für den Deutschen Buchpreis, der jährlich zur Frankfurter Buchmesse verliehen wird, aufgefallen, und zwar mit ihrem aktuellen Roman "Jahre später". Dies ist der dritte Teil einer Trilogie mit den beiden ersten Romanen "Das Mädchen" und "April". Mit letzteren hat es Klüssendorf jeweils in 2011 und 2014 sogar in die Shortlist für den Deutschen Buchpreis geschafft, also unter die sechs Finalisten. Da mich "Jahre später" inhaltlich interessiert, war es folgerichtig, dass ich mich davor mit Teil 1 und 2 beschäftige.
Inhalt
"Scheiße fliegt durch die Luft, streift die Äste einer Linde, trifft das Dach eines vorbeifahrenden Busses, landet auf dem Strohhut einer jungen Frau, klatscht auf den Bürgersteig" (S. 7) Ein bizarrer erster Satz in "Das Mädchen" und die da wirft ist: das Mädchen. Namenlos bleibt es die gesamte Geschichte über, und wir begleiten es zwischen seinem zwölften und siebzehnten Lebensjahr in den 1970er Jahren der DDR.
Vater Trinker und nur sporadisch in der Familie, Mutter launisch, aggressiv, gewalttätig und sadistisch, mit wechselnden Männerbekanntschaften, der jüngere Bruder in der Entwicklung zurückgeblieben. Und die Mutter lässt die Kinder schon mal über einen längeren Zeitraum allein zu Hause, schließt sie ein, so dass sie nicht einmal auf die Toilette können, denn diese sind "in diesen Mietshäusern immer ein halbes Stockwerk tiefer" (S. 8) Provozieren, klauen, abhauen ist das, was dem Mädchen bleibt und was es treibt. Zwischen Aufenthalten bei der Mutter, beim Vater oder im Heim schlägt sie sich tapfer durch die Zeit ihres Erwachsenenwerdens, in der sie unter ihren Altersgenossen zudem noch durch ihre schmale Körperform auffällt und deshalb "Gerippe" oder "Rippchen" genannt wird … und die Literatur als Fluchtort und ihren Seelenretter entdeckt.
Die Kritik
Unprätentiös, dieses sperrige Wort ist mir von Anfang an und beim weiteren Lesen nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Schlicht und schmucklos ist die Erzählweise Angelika Klüssendorfs, sie zieht mich aber gerade dadurch - in ihrer Nüchternheit - in den Lesebann.
Diese 183 Seiten lassen einen von der ersten bis zu letzten nicht mehr los - sie transportieren einen schweren und belastenden Inhalt - fast in Berichtsform - mit einer dazu passenden, ungemein verdichteten Sprache. Man ist schließlich froh, dass diese sehr real wirkende Geschichte Fiktion ist, obwohl und tatsächlich mit autobiografischen Anteilen durchwirkt (siehe dazu Interview mit Angelika Klüssendorf "Die Wahl haben, das war wichtig" in der taz vom 16.03.2018).
100 % lesenswert!
Angelika Klüssendorf "Das Mädchen", FISCHER Taschenbuch, Frankfurt am Main, Juli 2013, 4. Auflage: Juni 2018, 183 Seiten, ISBN 978-3-596-19455-1
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