Leseanlass
Schon oft über die Autorin gelesen. Jüngst wurde ihr der Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln verliehen, da fiel mir wieder ihr Name auf. Musste also endlich mal was von ihr lesen.
Inhalt
Eine an sich glückliche Familie - Vater, Mutter, zwei Kinder - ist über die Weihnachtstage und Silvester im Urlaub auf Lanzarote. Den Familienvater überfällt immer wieder ES: Panikattacken. An Neujahr macht er eine Fahrradtour in die Berge Richtung Femés. Oberhalb dieses Dorfes wird er in einem ehemaligen Ferienhaus mit seiner Vergangenheit konfrontiert – hier war er schon im Urlaub als Vierjähriger mit seinen Eltern und seiner damals zweijährigen Schwester, der sich aufgrund einer unerhörten Begebenheit (die Mutter geht im Ferienhaus fremd und die Eltern verlassen nach einem Streit nacheinander das Urlaubsdomizil) für die zwei Kinder zu einem Alptraum entwickelt.
Kritik der Mieze
Juli Zeh will der Dimension auf den Grund gehen, wie beherrschend eine traumatische Erfahrung aus der Kindheit in die gesamte erwachsene Persönlichkeit und in das erwachsene Leben hineinstrahlt. Deshalb sind hier zwei Handlungsstränge und die Hauptfigur Henning dominant:
Der erste Handlungsstrang: Henning als Familienvater, der zu Neujahr zu einer Fahrradtour in die Berge von Lanzarote aufbricht und in dem Ferienhaus landet, wo er einst als Kind mit seiner Familie Urlaub machte. Über viele Seiten muss ich alleinig seinen Gedanken und seiner Auseinandersetzung mit ES folgen, seinen Panikattacken.
Der zweite Handlungsstrang: Henning, vier Jahre, und seine Schwester Luna, zwei Jahre, gleichfalls im Urlaub auf Lanzarote, von den Eltern aufgrund des oben beschriebenen Vorfalls zurück- und über zwei Tage und zwei Nächte sich selbst überlassen.
Ein Buch, das mich in großen Teilen beim Lesen wütend gemacht hat – vielleicht mag das an der Erzählperspektive liegen. Diese ist personal – und zwar immer nur Hennings Sicht. Ich muss den Vergleich zu Isabel Bogdans Roman „Laufen“ ziehen, der teilweise technisch in der sportiven Erzählphase ähnlich geschrieben ist: Dort allerdings in der Ich-Perspektive und dadurch bin ich der Verzweiflung der Hauptperson viel näher als ich bei Juli Zehs „Neujahr“ je Verständnis für Hennings Gefühlslage entwickeln kann. Da fehlen Nähe und Wärme, eine Prise Humor und zurechtrückende Selbstreflexion.
Die Tage, in denen die Kinder allein gelassen sind, lesen sich beklemmend, die Gedanken, die Henning als Vierjährigen zugeschrieben werden, allerdings nicht altersgemäß. Zudem ist mir die Erklärung, warum die Kinder so lang allein sein mussten, nicht schlüssig und unglaubwürdig.
Vielleicht ist es das falsche zuerst gelesene Buch von Juli Zeh. Aber „Neujahr“ fand ich – und die Autorin ist mehrfach in langer Liste ausgezeichnet – in der Gesamtheit nicht überzeugend. "Im Grunde ist Juli Zeh genau die Schriftstellerin, nach der sich alle sehnen." (Volker Weidemann, FAZ) - Nein! Aber es bedarf einer zweiten Chance.
Juli Zeh, Neujahr, Luchterhand Literaturverlag, 1. Auflage München 2018, 191 Seiten, ISBN 978-3-630-87572-9
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