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Saŝa Staniŝić geht den Dingen, den Leuten, den Geschichten, den Orten, all dem nach, was ihn vermeintlich ausmacht, als ehemals bosnisches Flüchtlingskind, das ein neues Zuhause in Deutschland findet – es ist ein Versuch zu bestimmen, was für ihn Herkunft bedeutet.
Mieze-Kritik zu Saŝa Staniŝić „Herkunft“
Ich bin skeptisch, was Auszeichnungen und Titel angeht, und bin daher dem Träger des Deutschen Buchpreises 2019 - Saŝa Staniŝić mit seinem Buch „Herkunft“ - eher aus dem (Lese)Weg gegangen. Dieses Exemplar ist wieder mal eine Büchereiausleihe und eine ‚Zehn-Minuten-Vor-Toresschluss-Entscheidung‘ – also nehmen wir es halt schnell mit, bevor gar keines und die Büchereitüre geschlossen wird.
Auch dahoam musste das Buch noch auf seine Lektüre warten – erst die Julia Holbe (okay), dann noch der Sohn vom Kohl (auch okay) und dann schieben wir doch noch schnell die achtundachtzig Seiten von Rachel Carson dazwischen und dann – Bäng! - Saŝa Staniŝić und „Herkunft“!
Dynamo Dresden. Bayern München. Roter Stern Belgrad. Jugoslawien.
Zunächst hat Herr Staniŝić mich ganz privat gepackt, ab Seite 12 geht es um ein Fußballspiel: Roter Stern Belgrad spielte 1991 in der Champions League im Viertelfinale gegen Dynamo Dresden – und DD ist oder war für mich ganz viel Herkunft und Erinnerung. Roter Stern Belgrad traf dann im Halbfinale auf Bayern München und gewann (soll passiert sein 😉). Für Saŝa Staniŝić geht es allerdings hier darum zu zeigen: Belgrad wird mit und aufgrund seines Multi-Kulti-Mixes aus den besten Spielern aller jugoslawischen Herkünfte (bosnisch, kroatisch, slowenisch…) Champions-League-Gewinner – und paradoxerweise kurz nach diesem Titel bricht in und zwischen den jugoslawischen Teilrepubliken der Krieg aus…
Zufall und Glück und Fremde – Zugehörigkeits- und Herkunftskitsch in Saŝa Staniŝić‘ „Herkunft“
Ich lachte. Gavrilo fand es nicht komisch, und das war der Augenblick, da Gavrilo mich fragte, woher ich käme.
Also doch, Herkunft, wie immer, dachte ich und legte los: Komplexe Frage! Zuerst müsse geklärt werden, worauf das Woher ziele. Auf die geografische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft.
So redete ich und redete, und Gavrilo ließ mich ausreden. Er brach das Brot und reichte mir die Kante. Dann sagte er: „Von hier. Du kommst von hier.“ (S. 32 f.)
…
In Bosnien hat es geschossen am 24. August 1992, in Heidelberg hat es geregnet. Es hätte ebenso gut Osloer Regen sein können. Jedes Zuhause ist ein zufälliges. Dort wirst du geboren, hierin vertrieben, da drüben vermachst du deine Niere der Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will. Glück hat, wer sich geographische Wünsche erfüllt. Das gibt dann vorzügliche Sprachreisen, Alterswohnsitze in Florida und Auswanderinnen in die Dominikanische Republik zu besser aussehenden Männern. (S.123)
Saŝa Staniŝić hatte mich nicht nur über Dynamo Dresden. Über meine Skepsis stülpte er:
Witz und Komik. Da ist Kreativität, inhaltlich und formell, und ganz besonders in der Sprache, locker spielt er geradezu damit. Keine stringente Handlung, vielmehr ein Hin- und Herhüpfen zwischen den Orten und Zeiten, es wird nicht langweilig.
Dabei gelingt es gelingt ihm, seine eigene Position in dem Ganzen nicht zu ernst zu nehmen und das auch so rüberzubringen. Er fordert still, aber eindeutig auf, hinter seine Figuren zu schauen und meint damit die Menschen an sich.
Muss man lesen, nicht viel erklären.
Saŝa Staniŝić "Herkunft", Luchterhand Literaturverlag, 5. Auflage, München 2019, 365 Seiten, ISBN 978 3 630 87473 9
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