Inhalt
Michael, bzw. Mick, und Gabriel, zwei Brüder, ein schwarzer Vater, zwei weiße Mütter. In Ostdeutschland zu DDR-Zeiten geboren und dort aufgewachsen. Michael Anfang 1970 in Berlin, Gabriel Ende 1970 in Leipzig. Der Vater, senegalesischer Austausch- und Vorzeigestudent für die DDR und nach dem Studium wieder in seine afrikanische Heimat verschwunden, lässt somit die Mütter allein und die Söhne nahezu ohne jegliches Wissen über seine und über die Existenz des anderen Bruders zurück.
Mieze-Kritik zu Jackie Thomae "Brüder"
Startprobleme
Jackie Thomae gliedert ihren Roman „Brüder“ formal in drei Teile auf. Zentral ein Intermezzo, in dem der Vater von Mick und Gabriel - Idris - zu Wort kommt (20 Seiten). Davor im ersten Teil wird Micks Biografie personal erzählt (191 Seiten), danach Gabriels, in der Ich-Form aus seiner und der Sicht seiner Frau Fleur (186 Seiten). Schließlich ein Epilog von noch einmal zwanzig Seiten.
Die ersten einhundert, einhundertfünfzig Seiten zogen sich: Sie lasen sich flüssig, ja. Die Geschichte stellte sich zunächst aber inhaltlich nur im Kern in meinem Leseinteresse dar: immerhin zwei Hauptprotagonisten – Mick und Gabriel - die quasi mit mir Geburtstag haben und wie ich in die DDR hineingeboren wurden. So wie Mick nach dem Mauerfall/der Wende im Buch irrlichternd durch die Gesamt-Berliner Partywelt und Betten zog und seine Freundin Delia dies fast apathisch hinnimmt, so las ich mich etwas teilnahmslos durch diese erste Roman-Zeit, nun okay, na ja…
Keiner kann raus aus seiner Haut...
Als Micks Freundin Delia aus ihrem Beziehungsphlegma erwacht und Mick nur durch einen Knall - bähm - aus seinem Egorausch gerissen wird - beim missglückten Test einer Musikanlage erleidet er einen nur teilweise reparablen Hörsturz – da beginne ich Jackie Thomaes feines Schreibgespür für die zwischenmenschlichen und Beziehungsnuancen und das Menschelnde in diesem ganzen Chaos der Befindlichkeiten zu entdecken.
Das Gespür hält an und trägt sich (und mich) konsequent leicht, überaus angenehm und mit feinem Humor garniert und mit punktgenauen, sich aneinander hochschaukelnden Dialogen in den zweiten Teil des Romans hinein. Hier lerne ich dann Gabriel, den unbekannten Bruder Micks, kennen, und hier zeigt sich genau diese erzählerische Nonchalance dann besonders wieder, als Gabriel sein unerhörtes Ereignis widerfährt.
Er nämlich jagt der Besitzerin nach, deren Hund ihm einen Kackhaufen am Fahrrad hinterlassen hat, mit der ganzen Scheiße – gewollt, bewusst - in der Hand! Nun, diese Szene rührt in alle Richtungen, obwohl ich als Leser Gabriel zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht ausreichend kenne – ich muss lachen und grummeln beim Lesen, bin verständnisvoll und kopfschüttelnd, es ist comedyreif geschrieben und doch für den Akteur so bitterernst.
Der Vergleich der Brüder und ihrer unterschiedlichen Lebens-, Liebes- und Berufswege, die sie gehen, drängt sich schon allein über den Aufbau des Romans geradezu auf.
Erster Teil Mick - ohne Ziele, beruflich desorientiert, aber sozial, beliebt, ein Frauentyp und auf dem Grunde seines wirren kopflosen Daseins sympathisch.
Zweiter Teil Gabriel – zielgerichtet, ernst, macht schnurgerade und weltumspannend eine Architektenkarriere, sozial schwierig, überheblich, aber ganz den Menschen hingegeben, die er liebt (Fleur, Großvater).
Jackie Thomae gelingt es in ihrem Roman "Brüder", und das ist zweifellos der konträren und starken Perspektive Fleurs zu verdanken, Gabriel in seinem Schutzmantel aus Arroganz nicht unsympathisch werden zu lassen. Auch Mick gewinnt an Kontur, als Delia beginnt, sich von ihm beziehungstechnisch abzugrenzen.
...und aus seiner Hautfarbe
Für Mick im Berlin nach der Wende ist seine Hautfarbe eher Nebensache, wenn nicht sogar willkommenes Beiwerk in Sachen Anziehungskraft auf Frauen. Gabriel, der sich bewusst beruflich für London und auch deswegen für die Metropole entschieden hat, um in der polyglotten Stadt farbtechnisch zu ‚verschwinden‘, wittert ständig, wie seine Frau Fleur richtig feststellt, hinter harmlosen Fragen Rassismus.
Zu Gabriel passt es dann auch, dass Jackie Thomae dann doch klare Aussagen trifft:
Entschuldige, Sybil, ich laufe nicht den ganzen Tag herum und denke, ich bin schwarz, ich bin schwarz, oh Gott, ich bin schwarz! Ich denke auch nicht den ganzen Tag darüber nach, dass ich ein Mann bin, dass auf meinen Wimpern winzige Lebewesen sitzen, dass ich irgendwann durch einen Geburtskanal gepresst wurde. Das ist alles faszinierend, aber ich muss an andere Dinge denken als an gottgegebene Tatsachen, verstehst du das? (S.252)
…
Farbe bekennen? Ohne mich. Und ich sage dir auch, warum: Weil Hautfarbe als Distinktionsmerkmal die Grundlage für jede Art von Rassismus ist. Die Einzigen, die sich daran orientieren dürften, sind bekennende Rassisten. Wenn diese Unterscheidung aber kompletter Unsinn ist, was sie nachgewiesenermaßen auch ist, wieso sollte ich mich nach ihr richten? Wieso sollte ich mich einer Gruppe zuordnen lassen, die gar nicht existiert? (S.254)
Anfang und Ende
In einem einzigen Kapitel, dem letzten, kommt Albert, Gabriels Sohn, zu Wort, sozusagen zukunftsweisend. Angenehm, denn er rückt die zweifelnden Ansichten seiner Eltern ihm gegenüber zurecht – ganz vorbehaltlos lässt er sich, im Gegensatz zu seinem Vater Gabriel, auf ein Treffen mit seinem Großvater Idris ein.
Ansonsten ist mir das Ende zu kitschig – Mick wird geläuterter Yogalehrer und -therapeut, er wird noch unerwartet Vater einer fünfzehnjährigen Tochter eines Seitensprungs, die Familie – bis auf Gabriel – kommt auf Wunsch von Idris zusammen.
Alles in allem ist "Brüder" von Jackie Thomae aber ein Buch, das meine dringende Leseempfehlung erhält 😊.
Jackie Thomae, Brüder, Hanser Berlin in der Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München, 8. Auflage 2020, 430 Seiten, ISBN 978 3 446 26415 1
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