Mieze-Kritik zu Håkan Nesser "Der Choreograph"
Håkan Nesser ist nach Astrid Lindgren der bekannteste und erfolgreichste Autor Schwedens, vor allem mit seinen Kriminalromanen. Anlässlich seines 70. Geburtstages in 2020 wird sein bereits 1988 erschienener Debütroman „Der Choreograph“ erstmals auf Deutsch verlegt. Nach „Die Perspektive des Gärtners“ habe ich wieder, aber eher zufällig, keinen (wirklich klassischen) Krimi von Nesser erwischt.
Was als erstes beim Lesen auffällt, ist die Schwermut, die auf dem Ich-Erzähler liegt und sich in seiner Art des Erzählens widerspiegelt. Die Ursache vermutet er selbst von der Stadt ausgehend: „Den ganzen Herbst über war ich nur dreimal in K. gewesen, mir schien über der Stadt eine Art Schwermut zu liegen, eine Finsternis, die mich augenblicklich selbst bedrückte…“ (S. 118)
David – erst spät auf Seite 124 erfährt man seinen Namen – führt kein unzufriedenes, aber ein eher zurückgezogenes und vor allem auf seine berufliche Tätigkeit ausgerichtetes Leben: Er arbeitet wissenschaftlich an einem Institut. Es liegt etwas außerhalb der Stadt, dort werden psychisch Kranke behandelt, und er forscht u. a. auch mit Versuchstieren. David hat – er ist geschieden – hauptsächlich Kontakt zu seinen Kollegen - wie wenig Bedeutung sie teilweise allerdings für ihn haben, findet Ausdruck in der Anonymität, in der er sie mit Abkürzungen lässt.
‚Ich hatte einen Krug, und ich hatte ihn nicht…‘ oder ‚…von der Unbeständigkeit der Dinge‘ (S.12)
Eines Tages jedoch hat David eine unerhörte Begegnung und wird dadurch aus seinem gleichsamen, eher monoton verlaufenden und um seine eigenen Gedanken kreisenden Leben gerissen: In einem Geschäft beobachtet er eine sehr schöne Frau, die sich ein Kleid aussuchen will und sich nicht entscheiden kann. So von ihr hingerissen und augenblicklich ihr verfallen greift er in die Einkaufsszene ein, und die Liebesgeschichte nimmt ihren (ungewöhnlichen, extravaganten und mystischen) Verlauf. Die Auserwählte verschwindet, immer wieder, anfangs lässt David sogar mittels eines Detektivs nach ihr suchen, aber das Hin und Her bleibt Credo ihrer Liebesgeschichte und endet in einem Ferienhaus, wo ein Mann mit einem Messer auf David wartet...
Håkan Nessers Stil ist es nicht, eine auf die nächste Szene in einer stringenten Abfolge zu erzählen. Er springt zwischen den Zeiten, vor und zurück im Geschehen, wechselt die Orte, die Abkürzungen der Namen machen den Lesefluss zeitweise holprig. Das ist sicherlich nicht jedermanns Sache und zwang mich zu einer gewissen achtsamen und konzentrierten Langsamkeit im Lesen. Aber, aber: wie er erzählt, welche Sprachbilder er benutzt und wie gekonnt er Stimmungen schafft, Dinge weglässt und in den richtigen Momenten zu erzählen aufhört - und das einzig aus der alleinigen Perspektive einer Figur – das ist erste Klasse.
Ein Buch, bei dem ich schon bald wusste, dass es in
münden könnte und so auch durchweg bestätigt wurde.
Håkan Nesser "Der Choreograph" ist auch in der Zellinger Gemeindebücherei erhältlich.
Håkan Nesser "Der Choreograph", Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt, mit einem Vorwort von Eugen C. Brahms und einem Nachwort von Paula Polanski, btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München, 1. Auflage 2020, 255 Seiten, ISBN 978 3 442 75877 7
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