Ein Lektüreaustausch verbindet mich seit kurzem wieder mit meiner Schulfreundin Claudia aus EOS-Jahren, also meinen gymnasialen Zeiten in der DDR. Claudia habe ich meinen schon fast „Fan-Status“ gegenüber Robert Seethaler zu verdanken, initiiert mit „Das Feld“. Ali Smith nun mit „Herbst“ wurde mir auch von ihr empfohlen 😊.
Ali Smith, geb. 1962 in Inverness/Schottland, ist bei englischsprachigen Lesern schon reichlich bekannt und auch preisgekrönt. Der vorliegende Roman „Herbst“ erschien bereits 2016 im Original, ist Auftakt einer vierteiligen Jahreszeiten-Folge ( „Winter“ ist gerade auf Deutsch erschienen) und gilt als erster Brexit-Roman.
Pauline Boty, Pop-Art-Collagen und "Herbst"
Wenn man so will, ist Ali Smith' „Herbst“ eine literarische Collage. Erzählsequenzen springen zwischen den Zeiten hin und her und erst nach und nach erschließen sich manche Zusammenhänge. Dem Lesefluss tut das Sprunghafte keinen Abbruch, denn Ali Smith schreibt mit Achtsamkeit und Lust, mit Witz und Laune. Lediglich die Eingangsszene, in der wir einen der Hauptdarsteller, nämlich Daniel Gluck, als hundertjährigen, fantasierenden Greis im Pflegeheimbett kennenlernen, macht das Leseerlebnis zum Einstieg schwierig.
Erzählerische Perspektive ist die Elisabeths, die in der Gegenwart - also 2016 - Anfang 30 ist, Kunsthistorikerin in unsicherer Anstellung. In zwei Haupterzählsträngen ist sie verbunden einmal mit ihrer Mutter, alleinerziehend, alleinstehend, zu der Elisabeth ein eher distanziertes Verhältnis hat, und im anderen mit Daniel.
Daniel Gluck ist ein Nachbar von Elisabeth aus Kindheitstagen. Er wird von der Mutter als Not-Babysitter eingesetzt, daraus entwickelt sich eine ungewöhnliche Freundschaft, denn Elisabeth ist zu diesem Zeitpunkt zehn und Gluck fast siebzig Jahre älter. Daniel wird Elisabeths Mentor in vor allem Kunst- und literarischen, aber auch in Lebensfragen. Prägend wird für Elisabeth Daniels frühere Beziehung zu der Künstlerin Pauline Boty, die eine der ersten Pop-Art Künstlerinnen Großbritanniens war.
Die Gespräche zwischen Daniel und Elisabeth über ihre Bilder, ihre Collagen, fördern früh den Kunstsinn des Mädchens, aber auch den kritischen Umgang mit allen Dingen des Lebens. Das traurige Schicksal der Künstlerin und die spätere Einsicht Elisabeths, wie entscheidend die Persönlichkeit Pauline Botys für ihren Freund war, verweben Daniels früheres Leben rundum Pauline und Elisabeths Entscheidung, über diese Künstlerin aktuell Studien zu betreiben. So wie Daniel sie zur Kunst und Literatur geführt hat, hält Elisabeth nun den alten Mann – an seinem Bett lesend – wach und am Faden des Lebens.
Sittengemälde, Sittencollage
Es entwickelt sich – ähnlich einem Sittengemälde – aus der Collage eine literarische Sitten-Collage der (britischen) Gesellschaft. Gespickt mit Spitzen auf die Brexit-Entscheidung und mit fast comedyreifen Szenen mit entlarvender Schärfe, die bürokratische und spießige Zustände in den Ämtern und Büros Großbritanniens aufs Korn nehmen. Mit politischen, literarischen und künstlerischen Avancen in viele Richtungen, mit sprachlichen Spielereien.
Alles in allem entsteht eine überaus gelungene, gut lesbare Bestandsaufnahme der (britischen) Gesellschaft anno 2016 – nicht brexit-bierernst, aber doch mit dem gewissen Zorn aufgezeichnet, wie egoistisch, schwarz-weiß-malend und ja manchmal auch verblödet sich Teile der Gesellschaft benehmen.
Ali Smith, Herbst, Aus dem Englischen von Silvia Morawetz, Luchterhand Literaturverlag, 3. Auflage 2019, 266 Seiten, ISBN 978 3 630 87578 1 [unbezahlte Werbung, selbst gekauft]
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