Wer glaubst du eigentlich, wer du bist?
Kennen wir den anderen wirklich? Beziehungsweise andersherum gefragt: Wie oft fühlen wir uns von anderen missverstanden, weil das Gegenüber gar nicht richtig zuhört und sich schon ein vorgefasstes Bild von uns gemacht hat und gar nicht bemüht ist, uns wirklich kennenzulernen?
Und: wenn schon die anderen meinen zu wissen, wer wir sind und was wir brauchen: Kennen wir uns eigentlich selbst? Wer sind wir, was wollen wir, wann gelingt es uns aus freien Stücken zu handeln und ist all das, was wir wollen, immer so genau bestimmbar und wenn nicht, warum nicht?
Darum geht es...
In „Portrait“ von Jürgen Bauer lernen wir drei Menschen aktiv erzählend kennen: Mariedl, Gabriel und Sara. Alle erzählen ihre jeweilige Geschichte und darin eingefasst beschreiben sie ihr Verhältnis, ihre Sichtweise auf eine vierte Person: Georg. Sie entwerfen ein Bild von sich selbst und projizieren ihre Geschichte, ihre Persönlichkeit auf Georg, den Sohn, den Partner, den Ehemann.
Mariedl – Du musst mehr sein wie die anderen (S. 47) … Ich hab doch nur wollen, dass du dazugehörst… (S. 52)
Wer glaubst du eigentlich, wer du wirklich bist? (S. 9) - So beginnen die Erinnerungen der fast 90jährigen Mutter Georgs. Der Rückblick der alleinerziehenden und alleinstehenden Mariedl - der Mann und Vater bleibt im Krieg - sind geprägt von ihrem starken Willen, sich und die Söhne durchzubringen, von harter Arbeit und von ihrem Unvermögen, Verständnis für das Anderssein ihres jüngeren Sohnes zu entwickeln. Sie wünscht sich ihren zweiten Sohn als Bauer, der auf dem Hof der Schwiegerleute mit anpackt und sie unterstützt. Von klein auf ist Georg jedoch Außenseiter in der Dorfgemeinschaft, wird als Bastard angesehen, geht wie ein Mäderl, redet kaum, hat den Schädel in den Büchern und wird, neben den anderen Kindern und der Mutter, selbst von seinem älteren Bruder getriezt und geschlagen.
Gabriel - Du hast in Wirklichkeit keine Ahnung, wer du überhaupt bist, drum spielst du nach, was du rund um dich siehst. (S. 167)
… wächst wie Georg auf dem Land auf und flieht nach einer Beziehung zu einem anderen Burschi seines Heimatdorfes nach Wien. Dort nutzt er die Freiheiten vor allem in sexueller Hinsicht in der Schwulenszene der Großstadt aus. Dadurch lernt er Georg kennen, der sich im Wien der 1970er Jahre die Fassade eines bürgerlichen Lebens aufgebaut hat, mit Universitätsanstellung, großkotzigem Auto und schnieker Wohnung. Gabriel sieht in dem zehn Jahre älteren Georg den feinen Pinkel, und auch wenn er in eine Beziehung zu Georg geht, lässt er sich seine Freiheiten in jeglicher Sicht nicht nehmen und verdient sich letztendlich sein Geld als Stricher. Er provoziert den Freund zusätzlich auch aus der Motivation heraus, Georg aus der Fadheit seines Lebens und des Scheins herauszuholen. Mehr noch auch, um das wie in einer Art Unterwelt agierende homosexuelle Leben Wiens aus seiner Versenkung stärker in die öffentliche Akzeptanz zu heben.
Sara – Reiß dich zusammen, ich geniere mich für dich. Und ich brauche keinen Mann, für den ich mich genieren muss. (S. 244)
… ist vom pflichtbewussten und kühl wirkenden Vater geprägt. Eine mittelmäßige Opernsängerin, die aus einer toxischen, gewalttätigen Beziehung mit ihrem Chef am Opernhaus flieht, die sie jedoch bewusst gewählt glaubt, um beruflich voranzukommen. In dem eher passiv agierenden Georg hofft sie nun einen Partner zu finden, auf den sie kontrolliert und in ruhigeren Bahnen Macht ausüben kann. Sie wird Georgs Ehefrau trotz oder gerade wegen seiner Homosexualität. Sie bietet ihm mit ihrer Liaison die perfekte Vorstellung einer „heilen“ heterosexuellen Welt nach außen, was Georg auch in beruflicher Hinsicht dienlich ist.
Mieze-Meinung zu Jürgen Bauer "Portrait"
Jürgen Bauer entfacht für mich beim Lesen eine enorme Sogwirkung, weil
- er gerade bei den Monologen Mariedls und Gabriels die Sprachbesonderheiten konsequent einsetzt. Gerade dieses sprachliche Mittel transportiert eine hohe Authentizität dieser beiden Figuren und ihrer Erzählungen. Bei Mariedls Teil war ich schon fast überreizt aufgrund des fehlerhaften Satzbaus und der Derbheit der Sprache und wäre am liebsten ins Buch gesprungen und ihr über den Mund gefahren ob des andauernden Lamentierens über ihren Sohn in dieser anstrengenden Mundart. Dennoch gelingt es Bauer, dass ich zum Ende ihres Berichtes verständnisvoll und gerührt bin…
- er mit Gabriel eine tief in der homosexuellen Szene und Szenerie verwurzelte Figur geschaffen hat. Er klärt auf, geschichtlich wie auch ganz persönlich werdend, gibt genaue Einblicke in die Befindlichkeiten und Entwicklungen der „Szene“ von den 1970er bis in die 1990er Jahre. Das Uferlose in Gabriels Leben auch nur lesend zu begleiten war eine (lohnenswerte) Anstrengung und wieder ist der Schwenk zum Schluss von Gabriels Erzählung wärmend und ergreifend…
- die erzählerischen Bilder durch die Mutter, den Geliebten und die Ehefrau zunächst völlig abgeschottet voneinander entstehen (in nahezu gleichen Anteilen à circa hundert Seiten im Roman), es aber spannend ist, wenn sich die Figuren in den jeweiligen Erzählungen kreuzen und dann die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Situationen und Personen untereinander erfahrbar werden.
Jürgen Bauers Roman erzählt über vielschichtige und nicht immer erkennbare Ausdrucksformen der Liebe, über Einfluss von Herkunft und Einfluss der Lebens-Begegnungen, über Abhängigkeiten und Erniedrigungen, über Lügen, Verschweigen und Schweigen, übers Genieren 😊 und über die Unmöglichkeit, aus der eigenen Haut zu steigen.
Ein Buch, das mich beeindruckt hat und das ich nicht so schnell vergessen werde.
Jürgen Bauer, Portrait, Septime Verlag, Wien 2020, 306 Seiten, ISBN 978 3 892711 93 9
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