Ich bin in dieses Buch gestartet und war die ersten Kapitel genervt. Von einem ins andere wird man regelrecht geworfen, hin und her geschleudert, eine Aktion nach der anderen, eine Provokation folgt auf die nächste, Aufregung über Aufregung… und mittendrin: Lola! Lola, die Schmerz Ertragende (von Dolores), Lola, die freie Frau (von Carlotta), Lola rennt, Lola redet, Lola in Rage!
Geboren 1981 in Ostberlin, Mutter Petra Deutsche, der Vater Simon Jude, macht rüber nach Westdeutschland, dann nach Australien. Die Mutter heiratet nach Hamburg-Blankenese. Also wächst Lola bei den jüdischen Großeltern Hannah und Gershom in Berlin auf und mit all der Geschichte, die sie erlebt und zu erzählen haben.
Doch, stopp. Obwohl ich ihre Art zu reagieren, na ja, auch zum Teil nervig fand, sie war aber plausibel: ihre Wut, ihre Zerrissenheit zwischen Verzweiflung und Selbstbewusstsein, zwischen Distanz und Nähe, ihr Zorn auf die Worte und Haltungen der Leute, die alle irgendwie meinten, ihre lapidare Position zu ihrer jüdischen Identität, zu ihrer jüdischen Geschichte, ihrem persönlichen Erleben dieser mitzuteilen.
Berlin 2014. Lola, Anfang 30, Fotografin, Instagram-Star, ist von ihren Arbeitskolleg*innen provoziert worden. Hitlerbärtchen auf Selfie von Lola gemalt. Geht vor Gericht. Antisemitismus allüberall. Entnervt reist Lola von Berlin nach Tel Aviv, zu ihrem Geliebten Shlomo und ihrem Großvater Gershom. Drei israelische Jungs werden entführt und getötet. Krieg. Raketen. Boom. Iron Dome. Ein palästinensischer Junge wird umgebracht und öffentlich beerdigt. Gershom stirbt. Lola reist nach Thailand. Ihrem Vater entgegen?
Mirna Funk hat eine unglaublich intensive, dichte Art zu schreiben. Dinge auf den Punkt darzustellen. Direkt. Geradlinig. Nichts lässt sie aus, legt alles offen. Schont ihre Hauptdarstellerin (und sich selbst?) nicht, macht blank. 342 Seiten, die es in sich haben. Denn Lola ist unbequem und schaut hin, genau, bei den anderen, bei uns, bei sich selbst. Und gerade deswegen sind sie und ihre Geschichte für uns alle geeignet, uns in unserer schnellen Meinungsfindung und in unseren manches Mal festgefahrenen Haltungen und Denkweisen den Spiegel vorzuhalten.
Bei aller anfänglichen Genervtheit entwickle ich deshalb beim Lesen eine enorme Sympathie für Lolas Weg und ihre und Mirna Funks differenzierte, ernste wie dennoch losgelöst-leichte Art der Betrachtung und Darstellung.
Jede Person, mit der wir sprechen, ist angefüllt mit eigener Geschichte. Einer Geschichte, zu der wir niemals einen vollständigen Zugang haben werden. (S. 338)
Jeder glaubt zu wissen. Keiner aber weiß wirklich. Wie es einem geht. Als Jüdin. Als verlassene Tochter. Als Mensch. Jeder hat seine ganz eigene individuelle Identität. Herkunft. Geschichte.
LESEN!
Mirna Funk wurde 1981 in Ostberlin geboren und studierte Philosophie sowie Geschichte an der Humboldt-Universität. Sie arbeitet als freie Journalistin und Autorin, unter anderem für "Neon", "L'Officel Germany" und "Süddeutsche Magazin", und schreibt über Kultur und ihr Leben zwischen Berlin und Tel Aviv. 2015 erschien ihr Debütroman "Winternähe", für den sie mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis 2015 für das beste deutschsprachige Debüt ausgezeichnet wurde. (Infos dem Buch entnommen)
Mirna Funk, Winternähe, FISCHER Taschenbuch, Frankfurt am Main, Juni 2017, 3. Auflage April 2021, 342 Seiten, ISBN 978 3 596 03348 5
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