Zunächst waren es scheinbar nur einzelne Sätze, die sich meiner beim Lesen bemächtigten und die standen wie Bäume, stark und fest verwurzelt.
"Um den Tod kümmern wir uns schon…, Wir verloren uns in der Langsamkeit, … Ted war jemand, der für die Ewigkeit gemacht schien…, Teds Leiche lag lächelnd unter der Erde…, Ich hatte das beklemmende Gefühl, auf eine Welt zu blicken, die sich in einem stummen Schrei auflöst…"
Natürlich weiß ich: Sätze singulär jetzt und hier so aneinandergereiht vorgelesen entfalten nicht die von mir wahrgenommene Wirkung. Wie auch.
Il pleuvait des oiseaux - Es regnete Vögel
An ihnen haftete aber auch eine Atmosphäre: die der Natur und der kanadischen Wälder und darin die gewollte spartanische Einsamkeit dreier alter, über 80jähriger Männer, die der Wunsch auf ein freies Leben und einen selbst bestimmten Tod, fernab von den Greifarmen der Sozialarbeiter*innen und Pflegeheime, eint. Es ist Mitte der 1990er Jahre.
Charly, der Naturbursche, Tom, der Draufgänger, und Ted, der gebrochene Mann - seine jugendlichen Erlebnisse während der Großen Waldbrände um Matheson 1916 prägen die Geschichte in „Ein Leben mehr“ (im Original: Il pleuvait des oiseaux – Es regnete Vögel) maßgeblich. Obwohl ein Ereignis von vor über hundert Jahren haben die Brände eine erschreckend drängende Aktualität.
Dann sind da zwei Frauen, die in diese Einsiedelei eindringen: eine Fotografin, die sich mit den Bränden beschäftigt und die darin involvierten Leutchen bildlich sammelt. Und eine alte, kleine, zarte, feingliedrige Dame mit dünnen, hellen, leuchtenden Haaren - ein Vögelchen, deren Geschichte ein anderes dunkles Kapitel kanadischer Historie ankratzt: einer Verwahranstalt für Menschen, die anders sind, in Toronto, Queen Street West Number 999. Gertrude alias Marie-Desneige war Jahrzehnte dort festgehalten, und ihr Neffe erlöst sie aus einem Impuls heraus von diesem Schicksal. Die Momente, in denen sie erstmalig erscheint, haben etwas magisch Leichtes, Heiteres, Erlösendes.
„Ein Leben mehr“, in der Übersetzung von Sonja Finck, verbreitet eine streckenweise märchenhafte, aber umso kraftvollere und kraftgebende Illusion, dass wir – einmal alt - immer noch die Hoffnung haben dürfen und behalten sollten, frei und selbst bestimmt zu leben, zu entscheiden und sterben zu können oder auch noch Zeit ist, etwas Neues zu beginnen.
Trotz der manches Mal einen Menschen überfordernden Ereignisse und Erlebnisse, trotz des immer präsenten Themas des Todes entfaltet der Roman eine ungeahnt berührende und warme Schönheit, die eingebettet ist in eine natürliche Sprache, die frei ist von Schnörkeln oder Zierat.
Große herzliche Leseempfehlung.
Jocelyne Saucier, geboren 1948 in der Provinz New Brunswick, lebt heute in einem Zehn-Seelen-Ort im Wald, im nördlichen Québec. Sie arbeitete lange als Journalistin, bevor sie mit dem literarischen Schreiben begann. Ein Leben mehr ist ihr vierter Roman, der erste in deutscher Sprache. (aus der Klappe)
Jocelyne Saucier, Ein Leben mehr, Aus dem Französischen von Sonja Finck, insel taschenbuch 4489, 10. Auflage 2021, 195 Seiten, ISBN 978 3 458 36189 3
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