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Judith Hermann "Aller Liebe Anfang"


„Aller Liebe Anfang“ beginnt schön, einfach schön. Vom Anfang dieser Geschichte, vom Anfang dieser Liebe, von ihm geht ein Zauber aus: Stella und Jason lernen sich in einer Propellermaschine kennen. Stella hat Flugangst, sie kommt gerade von der Hochzeit ihrer Freundin Clara, wo sie den Brautstrauß gefangen hat. Ein Zeichen. Jason sitzt neben ihr und gibt ihr während des Fluges so was wie Halt. Nach einem Jahr: Hochzeit, Haus und Tochter Ava. 


„… wie eine Fremde im eigenen Leben …“ (S. 89)

Judith Hermann "Aller Liebe Anfang"
Judith Hermann "Aller Liebe Anfang"

Aber etwas stimmt nicht an dieser Beziehung: Stella ist viel allein, Jason ist längere Zeiten auf Baustellen unterwegs. Sie bleiben distanziert, Nähe ist kaum, wirklich kaum erkennbar. Stella hat außer zu ihrer Chefin und zu ihren Patient*innen – sie ist ambulante Krankenpflegerin – keine Kontakte, geschweige denn Freundschaften. Sie vermisst Clara. Stella ist viel in und mit ihren eigenen Gedanken unterwegs, kreist um sich selbst, um Ava, fühlt sich allein, sehnt sich jedoch gleichzeitig nach dem Alleinsein. 

 

Eines Tages steht ein Fremder an der Gartentür, klingelt, will mit ihr sprechen. Kommt wieder und wieder, wirft Briefe, Zettel, Gegenstände in ihren Briefkasten, sogar seinen Namen schreibt er irgendwann an ihre Klingel…


„Sie denkt, aber so ist das eben. Macht nichts, es macht nichts. So ist das dann.“ (S. 61)


Der Vergleich zum gerade gelesenen Roman „Daheim“ von Judith Hermann drängt sich freilich auf.

 

Denn diese schon da empfundene merkwürdige Stimmung legt sich auch bei „Aller Liebe Anfang“ auf das Lesegemüt. Ein bisschen wird mir wie Stella - schwermütig, lethargisch, deprimiert. Natürlich: das Thema! Stalking. Natürlich: Das ist, wenn so gewollt, wirklich perfekt rübergebracht: dieses Gefühl des Alleinseins, der Hilflosigkeit, diese klaustrophobische Atmosphäre – beklemmend. Die reduzierte Sprache tut ihr Übriges, die Beschreibungen verlieren sich jedoch manchmal für meinen Geschmack zu sehr in Details, deren Relevanz sich mir nicht erschließt.

 

Stella und auch Jason dabei zu begreifen gelingt mir nicht, ihrer beider Passivität, ihrer beider Unzugänglichkeit und Verschlossenheit. Möglicherweise liegt in der persönlichen und familiären Konstellation ein Stück weit Stellas Angreifbarkeit begründet.

 

Den Funken Wärme gesteht Judith Hermann nur dem Anfang ihrer Liebe zu, dazwischen erscheint sie mir trotz der Brisanz der Lage über weite Strecken abgekühlt, um sich dann zum Ende des Dramas wieder explosiv zu entfachen. Geschichten müssen nicht glücklich machen, aber – wie ich finde - ein paar Momente des Wiederfindens sollten sie schon bereithalten. Die habe ich nur ansatzweise in Judith Hermanns Stil und Darstellung der Figuren und leider auch dieses Mal für mich nicht überzeugend finden können. 


Aus der Klappe: Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt "Sommerhaus, später" (1998) wurde eine außerordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband "Nichts als Gespenster". Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien "Alice", fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin. 

 

Das Buch ist eine Ausleihe aus der Gemeindebücherei.


Judith Hermann, Aller Liebe Anfang, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2014, 219 Seiten, ISBN 978 3 10 033183 0

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