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Sarah Kuttner "180° Meer"


180° Meer: Die Sehnsucht nach dem Meer lässt Jule nicht los, wenn, dann aber möchte sie es schon so: Kopf nach links, Kopf nach rechts, freier, uneingeschränkter Blick, unverbaute Sicht - kein Steg, keine Seebrücke, kein Hindernis, nichts Störendes, nur Wasser und Himmel, und dieser bitte nicht blau, beides lieber grau, wild und rau… 


„… all meine Kaputtheit …“ (S. 116)

Jule ist Anfang 30, sie und ihre Lebenshaltung sind geprägt von Zweifeln, von Unzufriedenheit, von einer Unernsthaftigkeit und Leidenschaftslosigkeit im Umgang mit den Dingen, die sie tut und von einem häufigen Gefühl und Bedürfnis, vieles und jeden wegstoßen zu müssen. Die labile Mutter hat ihr früh, zu früh Halt abgefordert, der Vater ist abgehauen, sie wuchs mit Mutter und Bruder auf. Jakob studiert mittlerweile in London, zu ihm flüchtet sie ins Exil, nachdem ihr Freund Tim hinter die Affäre mit ihrem Chef gekommen ist, in dessen Club sie als Sängerin auftritt.   


„Ich bin einfach. Hier und jetzt und ohne Anstrengung, ohne Risiko.“ (S. 49)

Sarah Kuttner "180° Meer"
Sarah Kuttner "180° Meer"

In Sarah Kuttners Roman begleite ich die junge Frau bei ihrem Versuch, aus der Spirale aus Zorn, Wut und Beleidigtsein herauszufinden. Sie erzählt aus ihrer Perspektive, viele Passagen wirken selbstbemitleidend, dann macht sie sich einerseits unsympathisch. Andererseits habe ich großes, großes Verständnis für den Wunsch, den sie mit ihrer Flucht nach London verbindet: „Alles will nichts von mir.“ (S. 53) und auch „Nur sein, nicht funktionieren.“ (S. 100)

 

Die Autorin legt in ihre unruhig suchende Hauptfigur das, was viele auch jenseits Jules Generation sich insgeheim wünschen, sich nämlich jeglicher Verantwortung und Konfrontation zu entziehen und den Dingen aus dem Weg zu gehen. Dass das kaum und wenn, nur zeitlich begrenzt realisierbar ist, wird für Jule nach und nach klar.

 

Das eigene Leben ist nicht neben sich stehend möglich. Es schließt die Wurzeln ein, also die andauernde und wiederkehrende Reflexion des Verhältnisses zu Jules Eltern Monika und Michael und die Einflussnahme derer Entscheidungen auf dieses, ihr eigenes Leben, aber auch die Einsicht, dass ihr Selbstfindungsprozess nur bei ihr selbst beginnen und enden kann.

 

Was mir gefallen hat, ist die konsequent ehrliche Darstellung der Hauptfigur. Zu ihr passen - nerven aber auch - in dem ansonsten flüssigen Erzählstil umgangsprachliche Wendungen wie „egale Geste“, „okaye Quote“ oder „andere, bessere, bio-re Kaffeeläden“

 

Dass Jules Findungsweg ein Hund kreuzt und dieser als indirekter Vermittler und Lehrer fungiert: stimmig und erheiternd-logisch - wenn auch manches Mal zu ausschweifend dargestellt. Passend auch das ungeschönte Verhalten Jules bis zum Ende des Romans hin, die immer wieder in ihre Wutspirale gezogen wird - bitter, aber dadurch gerade authentisch und nahegehend. 

 

(Das Buch ist eine Ausleihe aus der Gemeindebücherei.)


Aus der Klappe: Sarah Kuttner wurde 1979 in Berlin geboren und arbeitet als Moderatorin. Sie wurde mit ihren Sendungen "Sarah Kuttner - Die Show" (Viva) und "Kuttner." (MTV) bekannt und arbeitete mehrfach für die ARD. Bei ZDFneo hat sie das Großstadtmagazin "Bambule" moderiert, zurzeit läuft dort ihr erfolgreiches Talkshowformat "Kuttner plus Zwei". Ihre Kolumnen für die "Süddeutsche Zeitung" und den "Musikexpress" wurden im Fischer-Taschenbuch Verlag veröffentlicht. Ihr erster Roman "Mängelexemplar" erschien 2009 und stand wochenlang auf der Bestsellerliste. 2011 erschien ihr zweiter Roman "Wachstumsschmerz". Sarah Kuttner lebt in Berlin.


Sarah Kuttner, 180° Meer, S. Fischer Verlag GmbH, 2016, 271 Seiten, ISBN 978 3 10 002494 7

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