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Titus Müller "Die fremde Spionin"


Im Oktober letzten Jahres war ich durch eine Bekannte zur - übrigens perfekt organisierten - Autorenlesung der Katholischen Öffentlichen Bücherei Retzstadt ins neue Pfarrheim eingeladen und erlebte einen offenen, redseligen und überzeugenden Titus Müller und natürlich wollte ich unbedingt das von ihm vorgestellte Buch erwerben. Ohne diese Veranstaltung hätte ich mir sicher das Buch nicht gekauft, auch aufgrund des Titels „Die fremde Spionin“ nicht - und warum es ausgerechnet „Die fremde Spionin“ heißt, hat sich mir auch während des Lesens nicht erschlossen.


Aber es behandelt deutsche Geschichte, es spielt unmittelbar vor dem 13. August 1961! Der Mauerbau liegt nun schon über sechzig Jahre zurück. Verrückt! Grundlegend anders die damalige historische Lage, freilich, aber beim Lesen ist mir bewusst geworden, wie irreal und doch so wirklich die Aktion war: Eine Stadt wird geteilt, das ist doch tatsächlich aus heutiger Sicht irgendwie kaum mehr vorstellbar. 

Worum geht es aber genau?

Titus Müller "Die fremde Spionin"
Titus Müller "Die fremde Spionin"

Mit zehn Jahren ist Ria Nachtmann zu Pflegeeltern gekommen, die Eltern verschleppt von der Staatssicherheit, die Schwester wächst in einer anderen Familie auf, wo genau, verschweigt man ihr. Als junge Erwachsene erhält sie durch Beziehungen der Stiefeltern eine Stelle im Ministerium für Außenhandel der DDR in Berlin. Als sie vom BND als Spionin angeworben wird, wittert sie die Chance, sich zu rächen und herauszufinden, wo ihre Schwester ist. 

 

Diese auf Tatsachen beruhende, gut recherchierte Geschichte um die forsch agierende Agentin Ria liest sich in einem Rutsch weg. Spannend und an keiner Stelle langweilig gelingt es Titus Müller, die Brisanz und die Stimmung der Zeit des Kalten Krieges und unmittelbar vor dem Mauerbau einzufangen. Er gibt mit seinem Roman Einblicke und Ahnungen, wie Geheimdienste arbeiten und funktionieren. Mit der Hauptdarstellerin sympathisierend wünsche ich ihr natürlich, nicht erwischt zu werden, bin jedoch überrascht, dass es ihr immer wieder nahezu unbelangt gelingt, den Fängen der Staatssicherheit oder gar des KGB zu entgleiten. 

Hier und an der einen oder anderen Stelle, wenn Ria beispielsweise - und vom Plot her relativ unvorbereitet entwickelt - noch eine zur Adoption frei gegebene Tochter hat, hadere ich mit dem Fluss der Geschichte. Eingefügte Sichtweisen eines Erich Honecker oder John F. Kennedy oder die Geschichte hinter dem berühmt gewordenen Pressefoto des über den Stacheldraht springenden NVA-Soldaten ordnen zwar das Geschehen „in das Große“ ein, sind für mich jedoch so im Detail beschrieben für das Erleben und Verstehen von Rias Situation nicht zwingend erforderlich. Vielmehr hätte ich gerne mehr noch mit ihr reflektiert, ihre Gedanken- und Gefühlswelt kennengelernt, den Einfluss des Lebens in der DDR nach der persönlichen Zäsur und in der Pflegefamilie auf ihre Entscheidungen noch mehr verstehen wollen. So stiehlt ihr auch die Figur ihres starken KGB-Gegenspielers Sorokin manches Mal fast die Show.

 

Trotzdem habe ich „Die fremde Spionin“ gern gelesen und empfehle den Roman gerne weiter. Ich bin zudem gespannt, wie sich Ria Nachtmann in Band 2 und 3, die diesen und nächsten Sommer erscheinen werden, innerhalb der nächsten Jahre und Jahrzehnte nach dem Mauerbau bis zu deren Fall weiter entwickeln wird.


Aus der Klappe: Titus Müller, geboren 1977 in Leipzig, schreibt Romane und Sachbücher. Er ist Mitglied des PEN Clubs und wurde unter anderem mit dem C.-S.-Lewis-Preis, dem Sir-Walter-Scott-Preis und dem Homer-Preis ausgezeichnet. Seine große Spionin-Trilogie erzählt die Geschichte einer mutigen Frau und drei Jahrzehnte deutsch-deutscher Geschichte.


Titus Müller, Die fremde Spionin, Wilhelm Heyne Verlag, 2020, 399 Seiten, ISBN 978 3 453 44125 5

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