Ich mag diesen Roman sehr. Das will ich vorausschicken. Mir ist bewusst, dass es ganz andere Stimmen gibt.
„Am 24. September 2012 bestieg Gladys Comeau den Northlander und ward fortan in Swastika – keine Stadt, nicht einmal ein Dorf, bloß eine kleine Siedlung an der Eisenbahnstrecke – nicht mehr gesehen.“ (S. 7)
Die alte Dame, weit über 70, bricht scheinbar grundlos, wie aus dem Nichts und ziellos auf und lässt – ganz zum Unverständnis der Nachbarn - in Swastika im kanadischen Ontario ihre etwas andere Tochter Lisana hilflos zurück, die mit dem Erwachsenwerden eine bleischwere Anwesenheit (S. 57), eine Schwermut und seitdem eine Todessehnsucht entwickelt hat.
Lange, lange lässt mich Jocelyne Saucier im Ungewissen, warum Gladys aufgebrochen ist und so ganz und gar auflösen will sie es schließlich gar nicht. Es hat zum Teil, so viel sei verraten, etwas mit Gladys Kindheit und ihrer Liebe zu Zügen zu tun. Vieles bleibt im Roman im Ungewissen, bleibt Spekulation. Das liegt sicherlich auch daran, dass Motivation und Bezüge des Erzählers, eines Englischlehrers und Eisenbahnfans, noch länger als bei Gladys im Unklaren bleiben. Zudem ist er auch noch am weitesten entfernt von der Geschichte und den Figuren.
Nichtsdestotrotz erreicht mich wieder so eine wohlige und wohltuende Wärme über diese Geschichte – ähnlich wie bei „Ein Leben mehr“. Wie das?
· Saucier hat ein uneingeschränktes Verständnis für all ihre noch so mackenbehafteten Figuren und daraus resultiert eine tiefe Empathie für deren Handeln, insbesondere bei ihrer Hauptfigur Gladys.
· Es sind die Menschen in der Geschichte und die Art und Weise, wie ihre Intentionen und Handlungen immer ebenso menschelnd aufgelöst werden.
· Die Autorin - wie in „Ein Leben mehr“ – scheut sich nicht, das Altern, Krankheit und Tod zu Hauptthemen zu machen und plädiert erneut für ein selbst bestimmtes Sterben.
Außerdem sympathisiere ich uneingeschränkt mit Gladys und - ihrer Liebe zu Zügen. Stelle ich mir vor, wie die kanadische Natur und Wälder an mir vorbeiziehen – dieses Setting macht was mit mir: ich reise, ich sitze, ich schaue, ich darf passiv sein, ich schalte ab, ich genieße…
Versteht ihr?
Jocelyne Saucier, geboren 1948 in der Provinz New Brunswick, arbeitete lange als Journalistin, bevor sie mit dem literarischen Schreiben begann. Ihr Roman Ein Leben mehr war ein Bestseller und wurde verfilmt. Was dir bleibt ist nach Niemals ohne sie Sauciers dritter Roman bei Insel. Sie lebt in einem abgeschiedenen Ort im nördliche Québec.
Jocelyne Saucier, Was dir bleibt, Roman, Aus dem Französischen (Québec) von Sonja Finck und Frank Weigand, Insel Verlag, Erste Auflage, Berlin 2020, 252 Seiten, ISBN 978 3 458 17878 1
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