Weltweit wurde dieser Roman fast vierzig Millionen Mal (!) verkauft. Und ja: völlig zu Recht! 446 Seiten, die mich von der ersten bis zur letzten in den Bann gezogen haben.
Die Geschichte um die Familie des Witwers und Anwalts Atticus mit den beiden Kindern Jean Louise (Scout) und Jeremy (Jem) und deren schwarzer Haushälterin Calpurnia spielt in den 1930er Jahren im fiktiven Maycomb in Alabama. Atticus wird als Pflichtverteidiger des schwarzen Tom Robinson eingesetzt, der eine junge Weiße vergewaltigt haben soll.
Scout erzählt, zu Beginn sechsjährig, und aus ihrer Perspektive gesehen spielt der Fall des Vaters sich auch zunächst weitestgehend im Hintergrund ab. Aus den Augen des Kindes erfahre ich nicht nur viel über Scout selbst, ihren Bruder Jem, über ihr Verhältnis zum Vater und ihren Blickwinkel auf Maycomb, die Menschen dort und die liebe Nachbarschaft… Allerlei besondere Begebenheiten runden das Bild dieser etwas verschlafenen amerikanischen Südstaaten-Kleinstadt ab. Und dennoch spüre ich, und gerade aufgrund der kindlichen Wahrnehmung, die immer größer werdende Tragweite und Einflussnahme des Falles auf Maycomb und natürlich auf die Familie Finch, der Kinder eingeschlossen.
„… es gibt nur eine Art von Menschen. Einfach Menschen“. (S. 362)
Atticus handelt als Anwalt und auch außerhalb seines Amtes ausschließlich seinem Gewissen verpflichtet. Die Kinder in ihrer alltäglichen Erziehung eher an der langen Leine führend (sie nennen ihn ganz untypisch für diese Zeit beim Vornamen) sind ihm vielmehr die Vermittlung von Werten wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Respekt, Toleranz und insbesondere auch Glaubwürdigkeit wichtig. Was er seinen Kindern und somit auch den Leser*innen auf den Weg gibt, ist, hinter die Fassaden und Skurrilitäten der Menschen zu schauen, sich nicht von scheinbar Andersartigkeiten abhalten zu lassen, sie kennenzulernen.
Ein Babyschritt vorwärts ist immerhin auch ein Schritt vorwärts, so stellt Miss Maudie, eine Nachbarin der Finches Scout gegenüber fest. Nur sehr langsam verändern sich Haltungen und Einstellungen, legen sich Vorurteile gegenüber Menschen ab, die anders sind, eine andere Hautfarbe haben, eine andere sexuelle Orientierung oder eine andere Lebens- oder Familienplanung als die der Mehrheit, damals in den 1930er Jahren, wie 1960, als das Buch erschienen ist, so wie heute.
Ein großes und menschliches Werk hat Harper Lee geschaffen, das sie mit einem herzlichen, leichten und feinen Humor durchwirkt hat, und das nach wie vor hoch aktuell ist und wohl leider nie seine Aktualität verlieren wird.
Harper Lee, geboren 1926 in Monroeville, studierte Jura an der University of Alabama, zog nach New York und begann zu schreiben. Sie war eng befreundet mit Truman Capote, den sie aus Kindheitszeiten kannte und dem sie bei den Recherchen für "Kaltblütig" half. Nach dem Welterfolg ihres in vierzig Sprachen übersetzten Romans "Wer die Nachtigall stört...", für den sie 1961 den Pulitzerpreis erhielt, verstummte sie und zog sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Sie lebt heute wieder in ihrer Heimatstadt. 2015 wurde ein Vorläufer von "Wer die Nachtigall stört..." gefunden, der über fünfzig Jahre als verschollen galt. (Aus der Klappe) --- Harper Lee verstarb 2016.
Claire Malignon übersetzte neben Harper Lee unter anderem Khalil Gibran.
Nikolaus Stingl, geboren 1952 in Baden-Baden, übersetzte unter anderem William Gaddis, William Gass, Graham Greene, Cormac McCarthy und Thomas Pynchon. Er wurde mit dem Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis, dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Stuttgart, dem Paul-Celan-Preis und dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW ausgezeichnet.
Harper Lee, Wer die Nachtigall stört..., Roman, Aus dem Englischen von Claire Malignon, Überarbeitet von Nikolaus Stingl, Mit einem Nachwort von Felicitas von Lovenberg, Rowohlt Verlag GmbH, Neuausgabe 1. Auflage Juli 2015, Hamburg, 459 Seiten, ISBN 978 3 498 03808 3
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