Diesen 2022 wochenlang in den Bestsellerlisten und so was von gehypten Roman hätte ich ganz sicher noch lange von mir ferngehalten. Eine private Leihgabe (@laedonna) und freie Zeit zu Weihnachten „erzwingen“ jedoch die Lektüre - na so was!
Versetzt euch in die 1950er/60er Jahre. Elizabeth Zott will all das nicht, was die gesellschaftliche Rolle der Frau jener Zeit ihr vermeintlich zuschreibt: Heiraten, Mutter werden, Hausfrau sein und sich dem Mann anpassen und unterordnen… Sie studiert Chemie und definiert sich vor allem als solche: als Chemikerin, als Wissenschaftlerin. Dieses Selbstverständnis und ihr vernunftgeleiteter, atheistischer Blick auf die Welt ist kombiniert mit einem geradlinigen, nicht verbiegbaren Charakter und so entsteht natürlich enorm viel Reibung mit der Umwelt, vor allem der männlichen, aber nicht nur. Zur Erinnerung: Wir sind siebzig Jahre früher -
Es geht also ums Frausein, um Grenzen des Frauseins, um männliche Herrschaft und tagtägliche Grenzüberschreitungen und Erniedrigungen, um Gleichstellung bzw. Nicht-Gleichstellung, um Besitzansprüche, die Herabsetzung und „Minderwertigkeit“ der Frau in patriarchalischer Tradition… und um den Willen und Mut, dies alles zu durchbrechen.
Der Roman liest sich weg, trotz des vielmals ernsten Hintergrundes - durch Garmus‘ lebendige, von Dialogen geprägte Sprache (von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann übersetzt) und durch einen amüsierten, von Witz und Humor durchtränkten Erzählton.
Ab dem Verlust Calvin Evans‘, des Partners Zotts, und der damit verbundenen Konzentration auf Elizabeth Zott als Hauptfigur steige ich intensiver in die Geschichte ein, auch weil sie nun erfreulicherweise ergänzt wird von sympathischen Nebenfiguren, die ganz im Dienst von Elizabeth Zott stehen. Die Idee, Zott als Chemikerin eine TV-Kochshow moderieren zu lassen - genial, die Öffentlichkeit nutzt sie schamlos in alle Richtungen. Ohne Frage: eine richtig, richtig gut erzählte Geschichte auf allerhöchstem Unterhaltungsniveau! Die Botschaften allerdings sind mir sehr oft zu plakativ und die Figuren zu überhöht dargestellt.
Nun, weiß Gott: Vielleicht braucht’s das aber - damit noch mehr Männer sich angesprochen fühlen (die das Buch hoffentlich auch lesen) und noch mehr Frauen aufgerüttelt werden. Denn aktuell bleibt der Stoff allemal.
Vier von fünf Miezen.
Bonnie Garmus, gebürtig aus Kalifornien, lebte in Seattle, bevor sie mit ihrem Mann nach London zog. Sie arbeitete als Kreativdirektorin und trug die Figur der Elizabeth Zott lange mit sich herum, bevor sie sie zu Papier bringen konnte. "Eine Frage der Chemie" ist ihr erster Roman, der in über 35 Ländern erscheinen wird.
Ulrike Wasel und Klaus Timmermann übersetzen seit vielen Jahren angloamerikanische Literatur von Autorinnen und Autoren wie Zadie Smith, Delia Owens, Dave Eggers und Benjamin Myers. Sie leben und arbeiten in Düsseldorf.
Bonnie Garmus, Eine Frage der Chemie, Übersetzung aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Piper Verlag GmbH, 3. Auflage München 2022, 462 Seiten, ISBN 978 3 492 071 093
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Janchen (Donnerstag, 29 Dezember 2022)
Das hast du ja wieder absolut mega klasse beschrieben. ����������