Kein Roman. Keine Erzählung. Keine Novelle. Berichtend, erinnernd der Versuch der Tochter nach dessen Tod zu bestimmen, wo der Platz des Vaters im Leben war und welche Perspektive sie dazu einnimmt. Geschrieben in einer klaren, nüchternen Sprache, emotionslos und distanziert, halt in Berichtsform, kühl, ja unterkühlt, auf nur 95 Seiten. Als ob sie der Kargheit und dem Verzicht im Leben der Eltern (Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts) nur über die Spiegelung in der Sprache und in der Form gerecht werden kann.
Das Gelesene lässt mich verwirrt zurück, das Erzählte gibt die unterschiedlichsten Eindrücke wieder und löst in mir die widersprüchlichsten Gefühle aus. Vordergründig Beklemmung, weil es doch so war, als ob sie einen Fremden beschreibt. Dann war ich wiederum berührt, weil sie genau die kleinen Dinge sah, die Gewohnheiten, die den Vater ausmachten. Ich war ungemein wütend, weil der „höhere“ Bildungsweg, den sie einschlug, sie von ihm und ihn von ihr entfernte, der nur Knecht, Fabrikarbeiter, Laden- und Kneipenbesitzer war. Verstehend, weil die Distanz zu den Eltern Abnabelung und wichtiger Schritt zu Selbstverständnis und Selbsterkenntnis sind, zum „eigenen Platz finden“ gehört. Eine Ambivalenz, die ich mir - sicherlich wie Annie Ernaux - so wie jede/r sich eingestehen muss.
Über allem schwebte ein Dunst der Melancholie - vielleicht auch des Vorwurfes der Autorin an sich selbst -, der die Erinnerungen einhüllte, schwer machte, nicht greifbar, unbegreiflich blieb für die Tochter, irgendwie auch erleichtert schien, es, ihn, sie hinter sich gelassen zu haben.
Insofern eine Lektüre, die mich weiter beschäftigen, die bleiben wird, die, ob der Kürze auch praktikabel, wieder gelesen werden muss - wie ich sie einordnen werde, kann, will, bin ich nicht in der Lage zu sagen.
2022 auch gelesen: Annie Ernaux "Das Ereignis"
Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als "Ethnologin ihrer selbst". Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Bücher sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden. 2022 wurde sie mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.
Sonja Finck übersetzt aus dem Französischen und Englischen, darunter Bücher von Jocelyne Saucier, Kamel Daoud, Chinelo Okparanta und Wajdi Mouawad.
Annie Ernaux, Der Platz, Aus dem Französischen von Sonja Finck, Suhrkamp Taschenbuch, 3. Auflage, Berlin 2022, 95 Seiten, ISBN 978 3 518 47108 1
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