Uli und Elisabeth sind Bruder und Schwester, fast wie Zwillinge, nur ein Jahr auseinander wachsen sie eng verbunden auf und sind nun erwachsen geworden in dem jungen sozialistischen Staat DDR. „Die Geschwister“ spielt kurz vor dem Mauerbau. Elisabeth ist Malerin, ihr Atelier befindet sich auf dem Gelände eines volkseigenen Betriebes, nah an der Erlebnis- und Erfahrungswelt der Werktätigen, der Arbeiter und Arbeiterinnen, einige davon besuchen die Kunst-AG des Werkes, die sie leitet. Uli hat Mathematik studiert (auf Staatskosten!) und will Schiffe bauen und will fliehen - in das feindliche, kapitalistische Westdeutschland, die Bundesrepublik.
Die Konfrontation mit diesem Entschluss - das ist, was Elisabeths Erzählen und Erinnern in dieser autofiktionalen Geschichte bestimmt - Reimann selbst arbeitete im Stahlwerk Hoyerswerda, leitete dort einen Literaturzirkel und erlebte, wie ihr Bruder Ludwig die DDR verließ.
Es ist verwunderlich, dass dieser Text, selbst ohne die Kürzungen, die der Zensur damals zum Opfer fielen, in der DDR zur Veröffentlichung kam. Überaus geradlinig werden Missstände ausgesprochen, das Zwischen-den-Zeilen-Lesen, das uns in der DDR so vertraut war, ist hier nicht notwendig.
Die Künstlerin Elisabeth macht ganz ähnliche Erfahrungen wie ihr Bruder, die allerdings bei Uli dazu führen, gehen zu wollen, sie entscheidet sich fürs Kämpfen: Sie erlebt wie er das Misstrauen, die Meinungsüberwachung, die Gängelung und Denunziation, die Zurückweisung in Abhängigkeit vom Parteibuch und vom sozialistisch-gewünschten Standpunkt.
Vorstellbar ist, dass der Roman nur aufgrund der Perspektive der Ich-Erzählerin erscheinen konnte: zwar kritisch, aber immer noch DDR-zugewandt und die beabsichtigte Flucht des Bruders verurteilend.
Reimann schreibt voller Herzblut, der voraus empfundene Schmerz Elisabeths über den zukünftigen Abschied und den ja endgültigen Verlust des Bruders ist nah, ganz nah erfahrbar. Wie durch ein Brennglas sind ihre Wahrnehmungen geschärft: Reimanns Sprache ist leidenschaftlich und sinnlich, wird zuweilen sentimental, und strahlt eine hohe emotionale Intelligenz aus.
Ja, stimmt. Ich bin im - berechtigten! - Reimann-Fieber.
P.S. Diese sehr schöne Ausgabe des Aufbauverlages entstand auch aufgrund des Auftauchens eines Teils des Originalmanuskripts 2022 im ehemaligen Wohnhaus Reimanns in Hoyerswerda - vielen Dank an den Verlag für das Zur-Verfügung-Stellen des Rezensionsexemplars. Es überzeugt mich auch durch die Haptik 😊.
P.P.S. Siehe auch die Briefwechsel "Sei gegrüßt und lebe" und "Grüß Amsterdam" - jeweils mit Christa Wolf bzw. Ingrid Weinhofen und "Drei Frauen träumten vom Sozialismus" von Carolin Würfel.
Brigitte Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung 1955 freie Autorin. Mit "Ankunft im Alltag" (1961) gab sie der "Ankunftsliteratur" ihren Namen. Ihr Roman "Die Geschwister" (1963) über die gerade vollzogene deutsche Teilung war eines der meistdiskutierten Bücher jener Zeit. Mit nur 39 Jahren starb die Autorin an den Folgen ihrer Krebserkrankung in Berlin. Ihre postum erschienenen Tagebücher "Ich bedaure nichts. Mein Weg zur Schriftstellerin" (Neuausgabe 2023) sorgten dank ihres unerbittlichen Blicks für Aufsehen. Ihr unvollendet gebliebenes letztes Werk "Franziska Linkerhand" (ungekürzte Neuausgabe 1998), gilt als einer der bedeutendsten Romane der deutschen Nachkriegsliteratur.
Brigitte Reimann, Die Geschwister, Roman, Herausgegeben von Angela Drescher und Nele Holdack, Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, 1. Auflage. Berlin 2023, 212 Seiten, ISBN 978 3 351 04204 2
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