Ich bin eine Frau. Ich lebe im Hunsrück in den 1980ern.
Du bist zu dick...
Ich manage unsere Familie mit zwei Kindern und den Haushalt.
Nimm doch endlich mal ab...
Ich gehe nebenbei noch arbeiten und mache eine Weiterbildung in Französisch.
So kann ich dich aber nicht vor meinen Kollegen zeigen…
Ich kümmere mich um meine demente Mutter, und Jessy, die Freundin unserer älteren Tochter, haben wir auf meine Initiative als Pflegekind aufgenommen.
Wegen dir habe ich die Beförderung nicht bekommen…
Ich organisiere auch den Hausbau.
Manches Mal begehre ich gegen ihn auf. Wir streiten oft. Meist gebe ich nach und füge mich. Wann es angefangen hat, dass er mich nur über meinen Körper, mein Gewicht definiert, weiß ich nicht. Die verschiedensten Diäten und Gewichtskontrollen bestimmen immer wieder über mich, er bestimmt über mich, er drangsaliert, beleidigt mich. Vor den Kindern. Er macht sein Ding. Sein Verdienst landet auf seinem Konto. Er geht zum Tennis. Er fährt in den Skiurlaub. Er hat, glaube ich, auch etwas mit einer aus dem Dorf. Zu seinem 40. habe ich ihm die Argentinienreise zu seinem Freund ermöglicht…
Das war ich damals…
Die große Tochter hat inzwischen unsere Familiengeschichte aus ihrer Sicht aufgeschrieben. Sie erzählt als Sieben-, Acht-, Neunjährige. Ich habe gelitten, damals - in den Gesprächen und Rückblicken mit meiner erwachsenen Ela habe ich verstanden, wie sehr auch sie. Und Jessy. Vieles, das Meiste, fast alles geschah unter „Vaters Gnade“, so schreibt meine Tochter. Das hat sie geprägt. Aber sie ist jetzt viel freier als ich damals. Und ich bin es jetzt auch. Mein Stolz hat mich gerettet.
Lest meine, unsere Familiengeschichte. Ich wünsche dringend, sie lässt euch - Frauen wie Männer - nachdenken. Wir Frauen sind heute viel freier und unabhängiger als damals. Trotzdem. Es ist immer noch notwendig aufzuwachen, umzudenken, zu beginnen und zu ändern.
Denkt dran, jede von Euch ist einzigartig.
Grad so, wie Du bist, bist Du richtig.
Fünf von fünf Miezen!
Daniela Dröscher, Jahrgang 1977, aufgewachsen in Rheinland-Pfalz, lebt in Berlin. Promotion im Fach Medienwissenschaft an der Universität Potsdam sowie ein Diplom in "Szenischem Schreiben" an der Universität Graz. Ihr Romandebüt "Die Lichter des George Psalmanazar" erschien 2009, es folgten der Erzählband "Gloria" (2010) und der Roman "Pola" (2012) sowie das Memoir "Zeige deine Klasse" (2018). Sie wurde u.a. mit dem Anna-Seghers-Preis, dem Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds sowie dem Robert-Gernhard-preis (2017) ausgezeichnet.
Und: "Lügen über meine Mutter" stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2022.
Daniela Dröscher, Lügen über meine Mutter, Kiepenheuer & Witsch, 1. Auflage, Köln 2022, 443 Seiten, ISBN 978 3 462 00199 0
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