Nachkriegs-Ostdeutschland – Franziska ist in einem konservativen, gutbürgerlichen Verleger-Hause aufgewachsen. Nach Studium und Lehrzeit beim großen, bewunderten Professor Reger sucht sie als junge Architektin bewusst und gegenläufig die Herausforderung beim Städtebau in der Provinz...
Ich kenne den Reimann‘schen Briefwechsel mit Weinhofen und Wolf – ich sah sie darin schmerzverzerrt schreiben in ihren letzten Jahren, gezeichnet vom Krebs, ich sah sie kämpfen, ja sich, der tödlichen Krankheit bewusst, fast abarbeiten, Seite um Seite an der Linkerhand-Geschichte - und weiß nun, was dabei entstanden ist.
Ich lese von einer jungen Frau, die „frei, wild, ohne Zaumzeug“ (S. 37) sein will, die sich lieber „… dreißig wilde Jahre […] statt siebzig brave…“ (S. 119) wünscht, ich lese von einer „ganz unheldische[n] Heldin“ (S. 139), die die Grenzen der sozialistischen Gesellschaft und des DDR-Staates erfährt und auch deren Prägungen auf die Menschen. Ich lese aber auch von einer Franziska, die genauso ihre eigenen Widersprüche kennenlernt und gegen sie und mit ihnen leben will.
Reimanns Sprache dabei: opulent, hoch lebendig, energiestrotzend, kraftvoll und: sinnlich! Ein ständiger Perspektivenwechsel, manchmal bis in den Absatz, ja fast in den Satz hinein, zum Teil seitenlange Sätze, Sprachbilder, ungehemmt und überbordend eingesetzt, und Handlungsarmut – das ist enorm anstrengend zu lesen, das liest sich nicht nebenbei. Jedoch entwickelt sich dadurch eine grandiose Figurenzeichnung; durch die Detailliebe und die Sinnlichkeit bin ich mittendrin in den Szenen und spüre hautnah die Latenz in den Beziehungsgeflechten um Franziska herum.
Das ist also die Linkerhand, die Franziska. Das war also die Reimann, die Brigitte. Die Romanfigur Linkerhand wie die Schriftstellerin Reimann zählen für mich zu den starken Frauen, die Du als Leser oder Leserin unbedingt kennen und lesen solltest.
Vielen Dank an den Aufbau-Verlag, der mir den Roman als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat, ebenso wie "Die Geschwister" von Brigitte Reimann, Rezension dazu hier.
Brigitte Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung 1955 freie Autorini. Mit "Ankunft im Alltag" (1961) gab sie der "Ankunftsliteratur" ihren Namen. Ihr Roman "Die Geschwister" (1963) über die gerade vollzogene deutsche Teilung war eines der meistdiskutierten Bücher jener Zeit. Mit nur 39 Jahren starb die Autorin an den Folgen ihrer Krebserkrankung in Berlin. Ihre posthum erschienenen Tagebücher "Ich bedaure nichts. Mein Weg zur Schriftstellerin" (Neuausgabe 2023) sorgten dank des unverstellten, auch gegen sich selbst unerbittlichen Blicks für Aufsehen. Ihr unvollendet gebliebenes Werk, "Franziska Linkerhand" (ungekürzte Neuausgabe 1998), gilt als einer der bedeutendsten Romane der deutschen Nachkriegsliteratur.
Brigitte Reimann, Franziska Linkerhand, Mit einem Nachwort von Withold Bonner, Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Vollständige Taschenbuchausgabe, 1. Auflage Berlin 2023, 639 Seiten, ISBN 978 3 7466 4040 2
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