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Deniz Utlu "Vaters Meer"


Dreizehn Jahre ist Yunus, als sein Vater Zeki im Juli 1996 „fällt“ – der junge Mann ist dabei, als sein Vater kurz hintereinander zwei Schlaganfälle erleidet. Nach dem zweiten verliert Zeki die Sprache, er kommuniziert nur noch über die Augen, ist gefesselt ans Bett – „Locked-in-Syndrom“. 

„Ich mit meinem Entschluss, niemals zu vergessen. Am Ende der Erinnerung treffe ich auf mich selbst.“ (S. 271)

Nun erinnert sich Yunus. Er nähert sich an. An die Zeit „vor dem Fallen“ und die zehn Jahre danach, bis sein Vater stirbt. Es wird die Annäherung an die Geschichte seines Vaters, der von der Türkei nach Kanada aufgebrochen und in Deutschland gelandet ist. Yunus‘ Annäherung an den Vater gelingt nur über eine Annäherung an sich selbst und an die starke, kraftvolle Rolle der Mutter Senem in diesem außergewöhnlichen Familiengefüge.

Deniz Utlu "Vaters Meer"
Deniz Utlu "Vaters Meer"

Erinnern ist Gegenwart. Erinnern ist das Füllen der Zwischenräume. „Schau in die Zwischenräume, …“ fordert Freundin Linn Yunus auf (S.292). Nicht nur die Äste und Blätter an den Bäumen sehen, auch das, was zwischen ihnen ist. Linns Bild lässt sich so wundervoll weiterspinnen: Nicht nur die Schatten sehen, die die Blätter werfen, sondern auch das Licht, das das Dazwischen durchlässt. Und die Bewegung der Blätter durch den Wind, die Veränderung der Erinnerung registrieren. Schatten- und Lichtspiele. Erinnerungsmöglichkeiten.

 

Deniz Utlu schreibt in Zeitensprüngen und mit Perspektivwechseln. So spült Vaters Meer (oder Mär?) wellengleich Erinnerungen und Erinnerungsmöglichkeiten an, die angereichert sind mit Schmerz, Angst, Unsicherheit und Trauer, mit Liebe, Zartheit, Verletzlichkeit und Poesie.

 

Voller Gefühl hat mich Deniz Utlu durch die Geschichte von Zeki, Yunus und Senem getragen.

 

Ich habe das Lesen dieser 382 Seiten sehr ausgedehnt und genossen. 


Deniz Utlu, geboren 1983 in Hannover, studierte Volkswirtschaftslehre in Berlin und Paris. 2014 veröffentlichte er seinen ersten Roman, Die Ungehaltenen, 2019 erschien sein zweiter Roman, Gegen Morgen. Seine Essays und Erzählungen wurden im Feuilleton und in Anthologien (u.a. Eure Heimat ist unser Albtraum, Ullstein 2019) veröffentlicht. Er erhielt den Literaturpreise der Landeshauptstadt Hannover 2019 und wurde 2021 mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet.


Deniz Utlu, Vaters Meer, Suhrkamp Verlag AG, 3. Auflage, Berlin 2023, 382 Seiten, ISBN 978 3 518 43144 3

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