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Alina Herbing "Tiere, vor denen man Angst haben muss"


In ihrem Roman „Tiere, vor denen man Angst haben muss“ schreibt Alina Herbing über eine Familie, die sich kurz nach der Wende 1990 entscheidet, vom Westen Deutschlands (bei Lübeck) in ein Dorf nach Mecklenburg-Vorpommern zu ziehen.

  

Schon die Auswahl des Hofes läuft merkwürdig ab: Die Familie fährt durch das Dorf, schaut sich drei Höfe, die in Frage kommen, an, und wählt dann einen spontan aus. Quasi sofort zieht sie mit Sack und Pack ein, und bereits da ist offensichtlich, sie alle wohnen ab sofort in einer Bruchbude. Die Zustände bessern sich nicht (Plumpsklo, Kohleöfen, oft ist jedoch keine Kohle da, durch alle Ecken und Ritzen zieht es), denn der Fokus liegt nicht darauf, daraus eine Heimstatt zu machen, sondern die Mutter geht mehr und mehr ihrer Leidenschaft nach: Sie engagiert sich ehrenamtlich im Tierschutz und rettet Tiere. Auf dem Hof tummeln sich zwei Wildschweine, Ziegen, die Katzen haben ein eigenes Zimmer, eine Eule und ein Schwan werden aufgenommen – und natürlich Hunde, einige, darunter Kettenhunde, und Mäuse (als Futter für die Eule) und Ratten… 


Alina Herbing "Tiere, vor denen man Angst haben muss"
Alina Herbing "Tiere, vor denen man Angst haben muss"

Unheimlich dicht, atmosphärisch und plastisch setzt Alina Herbing die Situation in Szene. Ich fühle mit den Schwestern Madeleine und Ronja, von denen erstere, die ältere erzählt, Vater und Brüder sind irgendwann weg. Ich friere mit den Mädchen, ich habe mit ihnen Angst vor den Hunden, ich ekele mich, wenn ich aufs Klo, gar meine Notdurft im Garten machen oder durch Hundeurin im Flur laufen muss. Unverständliche Dinge ereignen sich, bei denen ich nur den Kopf schüttele, und  - aus dem Blickwinkel von Madeleine erzählt - potenziert sich der Eindruck, wie permanent verantwortungslos die Mutter ihren Kindern gegenüber handelt.

 

Die Tiere gehen für sie immer vor. Bis zum Schluss. Das habe ich aber schon bald, früh im Roman verstanden.

 

Und das lässt mich ab circa der Hälfte mit dem Roman unzufrieden werden: Die Kinder gehen zur Schule, Madeleine bekommt Geigenunterricht, Ronja ist sogar mal im Krankenhaus. Der Vater lebt mit den Jungs weiter. Die Verhältnisse, der Geruch, die Kälte kriechen doch in Kleider und Körper. Fällt da nichts auf? Können sie wirklich so völlig losgelöst bleiben? Wo ist der externe Blick?

 

Schauen wir alle weg, bis es schließlich zur Katastrophe kommt? Und hier müssen wir hinschauen?

 

P. S. „Tiere, vor denen man Angst haben muss“ steht auf der Hotlist 2024, ist nominiert für das Buch des Jahres der unabhängigen Verlage. Am 10. September 2024 wird das Siegerbuch bekanntgegeben.


Alina Herbing, geboren 1984 in Lübeck, wuchs in Mecklenburg-Vorpommern auf und lebt heute in Berlin. Sie studierte in Greifswald, Berlin und Hildesheim. 2017 erschien im Arche Literatur Verlag ihr viel beachtetes Romandebüt Niemand ist bei den Kälbern, das unter anderem mit dem Friedrich-Hölderlin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg ausgezeichnet wurde. Der Roman kam 2022 verfilmt von Sabrina Arabi in die Kinos. Alina Herbing unterrichtet Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien Köln.


Alina Herbing, Tiere, vor denen man Angst haben muss, Roman, Arche Literatur Verlag, 1. Auflage, Zürich 2024, 254 Seiten, ISBN 978 3 7160 2818 6

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