Zwei Menschen. / „Wir werden uns, sagt er, nur ab und zu sehen, aber es soll jedes Mal wie das erste Mal sein – ein Fest.“ (S. 31) / Zwei Menschen. Frau und Mann. / „Ich habe nicht nur eine Ehe, sondern auch ein Verhältnis mit einer Frau beim Rundfunk.“ (S. 31) / Zwei Menschen. Katharina und Hans. / „Und wir dürfen uns nicht miteinander veröffentlichen – ich weiß und du weißt, das muss uns genug sein.“ (S. 31) / Zwei Menschen. Sie 19, er 53. / „Sie weiß, was er will, das sie wollen soll.“ (S. 276) / Zwei Menschen. Zwei Generationen. / „Wenn sie nicht mehr sie ist, und sie auch niemand anderes ist, woher soll die Kraft kommen?“ (S. 288) / Zwei Menschen. Zwei. / „Ich frage mich, …, ob ich überhaupt noch weiß, was ich will. Ob ich überhaupt noch wollen kann. Also da bin. Denn erkennt man einen Menschen nicht daran, dass er etwas will?“ (S. 290)
Zwei Menschen. Zwei Generationen. Zwei Perspektiven (auch erzählerisch). Er 1933 geboren, sie 1967. Sie treffen in einem Bus in Ostberlin am 11. Juli 1986 aufeinander. Zwei Individuen, deren zufällige Begegnung sich zu einer komplexen Beziehung entwickelt. Zwei, deren persönliche Dispositionen sich kombinieren mit gesellschaftlichen Prägungen aus zwei totalitären Systemen. Zwei, die eins sein wollen und die sich wie zwei Pole abstoßen und anziehen, sich gegenseitig manipulieren. Darin Ergebenheit, Naivität, Gewalt, Obsession. Toxizität. Demütigung. Katharina geht blank in dieser Beziehung, da ist null „Ich“ mehr bei ihr zu finden. Prinzip Hans, Prinzip DDR, Prinzip Diktatur.
Als Leserin bin ich über weite Strecken etwas ungläubig gegenüber dieser belasteten, belastenden „Partnerschaft“. Katharinas Vater: Von dem kannst du was lernen. Die Mutter: Pass auf dich auf. So what? Nun, wir sind in der ausgehenden DDR, nun, wir sind in Künstlerkreisen (Hans ist Schriftsteller und beim Rundfunk beschäftigt, Katharina beim Theater). Aber irgendwie nimmt mir im Roman die Beziehung der beiden in ihrer Negativität zu viel Raum ein, ich drohe darin zu versumpfen. Erst als die Mauer fällt, ist Erleichterung abzusehen (nach ca. 300 von 379 Seiten), auch wenn die Wende an dem Paar fast vorbeischlittert, dann das System und die Menschen der DDR geschluckt, annektiert, vereinnahmt werden -
… aber für Katharina tun sich Möglichkeiten auf, für Hans bringt sie das Aus. Ich bin froh.
Sprachlich und rein erzählerisch kann ich Jenny Erpenbeck absolut folgen. Inhaltlich hätte ich mehr DDR um diese Beziehung herum erwartet.
Nachsatz: Jenny Erpenbeck erhielt für "Kairos" den International Booker Prize.
Nachsatz 2: Hier geht es zu meiner Besprechung zu Jenny Erpenbecks Roman "Gehen, ging, gegangen".
Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Ost-Berlin, debütierte 1999 mit der Novelle "Geschichte vom alten Kind". Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Von Publikum und Kritik gleichermaßen gefeiert, wurde sie vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Thomas-Mann-Preis, dem Uwe-Johnson-Preis, dem Hans-Fallada-Preis und dem Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland. Auch international gilt Erpenbeck als wichtige literarische Gegenwartsautorin. So wurde sie u.a. mit dem britischen Independent Foreign Fiction Prize (inzwischen bekannt als International Booker Prize) und dem italienischen Premio Strega Europeo geehrt. Ihr Roman "Heimsuchung" wird vom Guardian auf der Liste der "100 Best Books of the 21st Century" geführt. Die amerikanische Übersetzung ihres jüngsten Romans "Kairos" war in den USA für den International Book Award nominiert und wurde 2024 mit dem International Booker Prize ausgezeichnet. Erpenbecks Werk erscheint in 30 Sprachen.
Jenny Erpenbeck, Kairos, Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, 8. Auflage, München 2024, 379 Seiten, ISBN 978 3 328 10934 1
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