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Lisa Quentin "Ein völlig anderes Leben"


Diesem Debütroman aus dem Jahr 2022 wünsche ich viel größere Aufmerksamkeit! Lisa Quentin greift ein Thema der jüngeren deutschen Geschichte auf, und ich finde es so gut umgesetzt, dass der Roman für mich perfekt ist. An einem Familienschicksal stellt die Autorin dar, wie Diktatur funktioniert, wie weit und wie hochmütig ihre Handlanger in Schicksale eingreifen und Leben in ‚ein völlig anderes‘ umwandeln. Lisa Quentins Roman behandelt die Zwangsadoption in der DDR.  

Lisa Quentin "Ein völlig anderes Leben"
Lisa Quentin "Ein völlig anderes Leben"

In einer Erzählebene entdeckt die 32jährige Jule beim Ausräumen der mütterlichen Wohnung ein Dokument, das belegt, dass sie von ihren Eltern 1985 in Rostock „an Kindes statt angenommen“ (S. 68) wurde. Schon der Tod der Mutter, mit der sie eng, aber immer auch merkwürdig distanziert verbunden war, ließ sie ins Leere fallen, so stürzt sie nun ins Bodenlose ab. Warum? Warum hat Anke, die Mutter, nie mit ihr darüber gesprochen? Plötzlich erscheinen ihr die Mutter und das Verschwinden des Vaters und der Schwester Marlene in einem anderen Licht, und sie beginnt, neu zu bewerten und zu recherchieren…

 

Im zweiten Erzählstrang begegne ich einer Ich-Erzählerin, die sich als „… das bin ich, deine Mutter“ (S.37) vorstellt und sich an ihr Aufwachsen als Pfarrerstochter in den 1960/70ern der DDR erinnert. Mit der Familie erlebte sie sich in einer Einheit, sonst aber war sie die Außenseiterin. Kollisionen mit dem System bis hin zum Fluchtversuch waren vorprogrammiert, und in dessen Folge antwortete die Diktatur mit Strafen, Repressalien und Demütigungen, die man sich nicht vorstellen mag und kann…

 

Knapp und klar hantiert die Autorin mit der Sprache. Oft beendet sie die Kapitel mit kurzen, schmerzhaften Botschaften oder lässt die zwei Frauen Fragen stellen, die mich direkt ansprechen. Jule auf ihrem Weg nach Herkunft und Identität zu begleiten und mit Eva zu hoffen und die Hoffnung auf ihr Kind nicht aufzugeben, war fesselnd und erschütternd zu lesen.

 

Im Nachwort berichtet die Autorin von zehntausend politisch motivierten Adoptionen und geschätzten um die 340 Zwangsadaptionen in der DDR, von denen nahezu keine aufgeklärt ist – wie zermürbend muss das eigene Leben verlaufen und das eigene Selbstwertgefühl beeinflussen, nicht zu wissen, woher man/frau kommt. Ein lehrreiches, Augen öffnendes Stück Literatur, gerade jetzt, da viele autoritäre Führungen wählen. 

 

Ich kann dieses Buch wirklich nur weiterempfehlen.


Lisa Quentin wurde 1985 geboren, hat Germanistik und Psychologie in Freiburg studiert und danach zehn Jahre lang als Werbetexterin und Online-Redakteurin gearbeitet. Nach einer Ausbildung zum NLP-Coach arbeitet sie nun in der Online-Branche und erforscht das Verhalten von Nutzer*innen. Zusammen mit ihrem Mann und drei Kindern lebt sie in Lübeck. Ein völlig anderes Leben ist ihr Debütroman bei Goldmann.


Lisa Quentin, Ein völlig anderes Leben, Wilhelm Goldmann Verlag, München, 1. Auflage, März 2022, 319 Seiten, ISBN 978 3 442 31635 9

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