Die 204 Seiten der Literaturnobelpreisträgerin Han Kang sind eine Wucht … eine zarte, leise, sich langsam einschleichende literarische Wucht, die mich unerwartet trifft, denn die ersten fünfzig, sechzig Seiten überzeugen mich nicht so recht. Die zwei Hauptfiguren, in Seoul lebend, agieren lange parallel, kammerspielartig, eine stringente Handlung gibt es nicht.
Die Frau, sprachbesessen, hat Literatur unterrichtet, ihre Stimme versagt paradoxerweise. Sie wirkt vereinsamt, depressiv, die Mutter ist gestorben, der Sohn im Sorgerechtsstreit an den Vater verloren. Sie belegt einen Altgriechisch-Kurs. Der Lehrer spürt, dass mit ihr etwas nicht stimmt, selbst leidet er - ähnlich seiner Schülerin - unter einem Sinnesverlust, er erblindet, weswegen er nach einem langen Deutschlandaufenthalt nach Südkorea zurückgekehrt ist. Ein Missgeschick des Lehrers zwingt die Zwei, sich anzunähern…
Han Kang lotet das Innerste ihrer Figuren aus, tief dringt sie in ihre Seelen ein – es ist beeindruckend, wie es ihr gelingt, die zwei Beeinträchtigten durch die Geschichte und sie schließlich zusammenzuführen und mich an deren Wahrnehmung teilhaben zu lassen. Die eine kann, will nicht mehr sprechen, um den anderen wird es dunkel - so erleben sie das Außen wie unter einer Glasglocke, wie unter Wasser, wie im dichten Schneefall, wie im Nebel - eine Wahrnehmungs/Kommunikationsebene ist durchtrennt.
Der Einsatz der Perspektiven ist auffallend. Die personale Erzählweise hält mich zu der Frau mehr auf Distanz, wohingegen mir der Lehrer durch die Ich-Perspektive schnell sympathisch wird, und – raffiniert – lässt die Autorin ihn in die Du-Form wechseln: Er wendet sich gedanklich an eine ehemalige Geliebte, an seine Schwester und an seinen bereits verstorbenen (deutschen) Freund - sanfte, berührende Momente. Die Zusammenführung der Protagonisten wird jeweils personal erzählt, er monologisierend, sie immerzu schweigend, aber durch seine sprachlichen Impulse innerlich reagierend.
Der Roman hat viele thematische Ebenen. Die Macht und die Kraft der Sprache. Die Bedeutung der Wahrnehmung. Es geht um Verluste, nicht nur der Sprache und Sinne, sondern auch um menschliche, und die Vereinsamung daraus. Aber auch um das Pendeln zwischen den Kulturen, das Fremdbleiben hier und das Fremdwerden dort.
Ein innovativer Roman, in den Du Dich fallen lassen musst, dann spürst Du seine Intensität, seine Dichte und seine Poesie.
Ganz groß.
Han Kang ist die wichtigste literarische Stimme Südkoreas. 1993 debütierte sie als Dichterin, seitdem erschienen zahlreiche Romane. Seit sie für "Die Vegetarierin" gemeinsam mit ihrer Übersetzerin 2016 den Man Booker International Prize erhielt, haben ihre Bücher auch international großen Erfolg. Auch der Roman "Weiß" war für den Booker Prize nominiert, "Menschenwerk" erhielt den renommierten italienischen Malaparte-Preis. Im Aufbau Taschenbuch ist ebenfalls ihr Roman "Deine kalten Hände" lieferbar.
Ki-Hyang Lee, geboren 1967 in Seoul, studierte Germanistik in Seoul, Würzburg und München. Sie lebt in München und arbeitet als Lektorin, Übersetzerin und Verlegerin.
Han Kang, Griechischstunden, Roman, Aus dem Südkoreanischen von Ki-Hyang Lee, Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, 3. Auflage, Berlin 2024, 204 Seiten, ISBN 978 3 351 03792 5
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